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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

weil sie sonst so viel sprechen konnte. Und als wir ihr von einem Geist erzählten, der auf den Händen gehen sollte und von verschiedenen Menschen gesehen worden war, da schlug sie gar nicht die Hände über dem Kopf zusammen, wie das sonst ihre Gewohnheit war, sondern sie sah immer wieder in das häßliche Wasser.

„Du hörst gar nicht zu, wenn wir Dir etwas erzählen!“ bemerkte Milo jetzt etwas empfindlich. „Was hast Du nur? Und weshalb knöpfst Du Deine Jacke immer auf und zu? Willst Du Dich ausziehen? Das thut man doch sonst nur in seiner Schlafstube.“

„Ja, ich wollte mir ausziehen!“ murmelte Marenz. „Die Jacke is mich denn doch zu schade!“

„Wofür? Sie ist ziemlich schmutzig, finde ich. Wofür ist sie zu schade? Mag Herr Dorning sie nicht leiden?“

Das Mädchen war plötzlich zusammengefahren.

„Herr Dorning –“ wiederholte sie und ihre weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe. „Ich wollt, was ich tot wär!“ murmelte sie nach einer Weile.

Wir betrachteten sie wieder.

„Sag mal, Marenz – magst Du ihm wirklich keinen Kuß geben, und ist es wahr, daß Du hungern mußt, wenn Du das nicht willst? Ich möchte aber nicht hungern!“

Ich hatte gesprochen und die Gefragte wandte plötzlich den Kopf nach mir, während sie mich bis dahin gar nicht angesehen hatte.

„Was die Leute nich allens wissen!“ sagte sie finster. „Nu weiß so’n Kind wie Du das all, was bei uns ins Haus passiert! Ja, was die ohlsch Oltem is, die kann ja den Mund nich halten! – Was will er von mich?“ rief sie plötzlich wild auf. Ich hab ihn nix gethan – nich das Allergeringste! Was kann ich dafor, daß ich sein Geld finde und er mir nachher wiedersieht! Darum brauch ich ihm doch nich zu nehmen und Frau Olten braucht mir nich zu slagen und einzusperren und mich kein Essen zu gönnen, bloß, weil ich ihm nich will! Was soll ich mit ihn? Wenn er jedwede Nach auf seine Thalers liegen und slafen kann, denn is es ja gut – ich kann es nich! Ich will mein Slaf nich hergeben, mein Slaf und mein Frieden bloß um ein Berg Thalers zu haben, Oltensch sagt, weil ich aus’n Armenhaus komm, sollt ich mir bedanken, daß mir so’n Glück geboten wird. Du lieber Gott! Will ich nich zehnmal lieber ins Wasser – ins Armenhaus gehen, as – –“ sie schauderte wieder zusammen und wir hörten ihr zu mit der ganzen Andacht von Kindern, die etwas vernehmen, von dem sie nur die Hälfte verstehen.

„Du willst Herrn Dorning also nicht heiraten?“ fragte ich weiter – „dann heirate doch Johann Kühl –“

Milo unterbrach mich. „Ach nein, der war neulich böse auf Marenz! Weißt Du nicht mehr? Er war mit ihr hingefallen!“

„Das hat er Euch verzählt?“ Marenz schien Herrn Dorning zu vergessen und wurde ganz rot. „Ja, da konnte ich doch nix bei thun, wo er mir mit einmal wegrutschte! Denn tanzen kann er nich besonders. Abers darum –“ sie seufzte – „darum is er doch gut – so gut! Abers er will nu doch nix mehr von mich wissen, wo Oltensch das so gut for mir besorgt hat!“

Sie lachte ein wenig bitter und sah darauf träumend in den Himmel.

„Vorgestern und den Tag vorher is er zweimal an unsern Laden vorübergegangen und hat ümmer in Fenster eingekuckt, weil daß er mir doch gewiß sprechen und fragen wollt, ob das wahr wär, was die Leutens von mich verzählen. Abers ich durfte nich aus die Thür gehen – Oltensch paßte auf mir und is nich mal zum Slafen gegangen. Und ich hat so’n Sehnsucht, ein klein Wort mit Johann zu snacken. Wo ich ihm doch sagen wollt, daß ich den alten Kerl nich haben mag und auch nich mag, daß Oltensch mannichmal so gräsig freundlich mit mich is. Ich soll denn patuh mit sie in ihr beste Stube sitzen, wo all die gehäkelten Deckens liegen, und denn verzählt sie mich, was ich mich allens kaufen kann, wenn ich Dorning sein Frau bin! Abers das will ich nich werden – nie und nimmer, und Johann muß das auch von mich glauben, daß ich an sowas nich denk! Abers sagen wollt ich ihn das doch gern mal, weil daß alle Mannsleutens mannichmal so verdreht sind uud Slechtes von einen denken. Wie er nu gestern abend wieder an uns’ Hausthür vorbeigeht und die Ohlsch gerade nich bei die Hand is, lauf ich eilends hinaus und ruf: ‚Johann Johann, komm flink mal her!‘ Er kommp denn auch snell an; wie ich aber gerad den Mund aufthun will, da faßt mich ein an die Schulter und schieb mir weg. Da is das Oltensch, und sie stellt sich in Hausthür und schreit ganz laut: ‚Ja Johann, komm man mal her und kuck Dich den reichen Herrn Dorning sein Braut an! O – was is sie einmal glücklich und was haben die beiden sich einmal lieb! Willst auch zu Hochzeit, Johann, denn will ich Dich woll ne Einladung besorgen!‘ Abersten Johann hört ihr gar nich mehr, der hat sich auf die Hackens rumgedreht und is fortgegangen. Nich einmal hat er sich umgesehen. Nich einmal!“

Marenz atmete tief auf und preßte die Hände zusammen.

Wir saßen ganz still, und weil sie so traurig aussah, so hatten wir viel Mitleid mit ihr.

„Wenn Du Johann morgen wieder siehst, dann kannst Du ihn vielleicht sprechen!“ tröstete ich sie, aber sie lächelte sonderbar.

„Morgen? Weiß Du, wo ich morgen bin?“ Wieder blickte sie in das trübe Wasser, über das gerade ein kurzer Windstoß fuhr.

„Was soll ich noch auf diese Welt?“ murmelte sie halb für sich. „Johann mag mir nich mehr leiden und Oltensch quält mir vielleich so lang, bis ich es nich mehr aushalten kann und den alten dicken Mann noch nehme! Mit all die harten Thalerns, an die man sich ümmer stoßen thut!“ Sie schüttelte sich. „Abers jeden und jeden Tag Prügels und slechte Worte und denn kein ein, der sich um mir kümmert! Und wenn ich ihm nehm, denn sterb ich sowieso – da kann ich ja –“

„Wenn Du Herrn Dornings Frau wirst, dann kannst Du jeden Sonntag in der Kirche schlafen!“ bemerkte Milo. „Da brauchst Du nicht auf Speziesthalern zu sitzen – da sind bloß Holzbänke!“

„In Kirche?“ Marenz blickte unwillkürlich nach dem großen Kirchturm, der hoch in den blauen Himmel ragte und den man von unserem Platze so gut sehen konnte. Die Dohlen umkreisten ihn schreiend. Sie hatten ihre Nester unter dem Kupferdache und sie dachten wahrscheinlich, der Turm stände ihretwegen da.

„Ich bin gern in Kirche gegangen,“ sagte Marenz nachdenklich. „Uemmer hatt ich nich Zeit. Abers wenn ich Zeit hatt, denn war es schön, bannig schön. Die Predigt und das Singen und Allens!“

Sie seufzte tief auf und Milo nickte.

„Ich mag das Singen am liebsten. Und weißt Du, was ich auch gern möchte? Mit den andern Jungen zu singen, wenn jemand begraben wird! Das ist wunderhübsch! Aber ich bin noch zu klein dazu – ich darf noch nicht mitsingen!“

„Wenn jemand begraben wird!“ Marenz sprach die Worte unwillkürlich nach und dann sah sie wieder in das Wasser.

„Ich weiß nich, was ich soll!“ murmelte sie. „Kein Mensch hilft mir – kein ein, und wenn ich ihm heirate, denn werd ich elend, ganzen elend!“

Sie brach plötzlich in Thränen aus, und wir hatten sehr viel Mitleid mit ihr, obgleich wir ihren Kummer nicht verstanden. Aber wenn erwachsene Leute weinten, wurden wir immer gerührt und Milo rieb bereits an seinen Augen, während ich ein unangenehmes Gefühl im Halse fühlte.

„Weine doch nicht so,“ bat ich kläglich. „Es geht alles wieder über, sagte Herr Sörensen, als wir vorhin auch so weinten. – Sieh mal, fliegt da nicht Dein Kanarienvogel?“

Ein gelber Vogel war nämlich eben an uns vorbeigeschlüpft. Marenz schüttelte den Kopf, aber sie trocknete doch ihre Thränen.

„Der is in sein Bauer in meine Stube! O -“ sie fuhr in die Höhe. „Ich hab ihm gestern und heute gar kein Wasser gegeben, ich hab da nich an gedach! O, was bin ich slecht! Nu muß er am Ende sterben und allens kommp von den alten gräsigen Kerl den Dorning! Ich wollt, daß der hier im Wasser läge!“

Und sie ballte beide Hände mit zorniger Gebärde. Dann stand sie auf und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Mein klein Tier soll nich verdursten! Is blos ein Weibchen und hat kein Swanz – abers Weibchens haben auch Gefühl! Adjüs ok, Kinners!“

Sie faßte uns beide an der Hand und sah uns mit seltsamem Blick an.

„Adieu, Marenz!“ sagten wir. „Es war sehr nett, mit Dir hier zu sitzen!“ setzte ich hinzu, und Milo meinte: „Ein andermal mußt Du aber nicht so weinen!“

Sie lachte kurz auf und ging davon, während wir uns nach der entgegengesetzten Richtung wandten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_640.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)