Seite:Die Gartenlaube (1895) 636.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Taubstumm geworden.

Von Dr. Rudolf Haug.


Taubstumm werden?“ fragst du verwundert, verehrte Leserin; du hattest gedacht, ein Taubstummer würde immer als solcher geboren. Nein, dem ist nicht so! Nicht von den Unglücklichen, die mit diesem Gebrechen behaftet zur Welt kommen, wollen wir heute sprechen, sondern auf die Armen, die als Vollsinnige die erste Zeit ihres Lebens verbrachten und nachträglich erst Gehör und Sprache verloren, auf ihre Leidensgeschichte wollen wir einen kurzen Blick werfen.

„Herr Doktor! ich weiß nicht, was das mit meinem Jungen ist“ – so spricht mich in der Klinik eine junge Mutter an, indem sie mir einen scheinbar kerngesunden, pausbäckigen Knaben von fünf Jahren vorführt – „er will gar nicht sprechen lernen; ich glaube, er hat eine schwere Zunge. Meinen Sie nicht, daß es besser würde, wenn man ihm die Zunge löste? Er muß aber auch schlecht hören, denn ich kann ihm rufen, schreien, läuten, es geht ohne Eindruck an ihm vorbei, und das Sprechen hat ganz aufgehört. Früher hat er auf alles aufgepaßt, auf das kleinste Geräusch, und hat auch schon ganz nett angefangen, nachzuplappern. Aber ich dachte, er entwickelt sich eben ein bißchen langsam; jetzt bin ich aber doch ängstlich geworden.“

Ich untersuche das Kind und kann, obschon das Trommelfell und die Teile des sogenannten Mittelohrs sich vollständig normal verhalten, feststellen, daß es auf beiden Seiten taub, gänzlich taub für alle und jede Tonwelle ist. Das Kind ist taubstumm und wird es bleiben zeitlebens!

Ich setze der armen Mutter so schonend als möglich mein trauriges Resultat auseinander, sie ist zu Tode erschrocken und Thränen stürzen ihr aus den Augen, als sie ihren Einzigen, ihren Liebling nur noch als einen halben Menschen weiß.

Wie aber ist es gekommen, daß das Kind, das doch über zwei Jahre gut, recht gut gehört hatte, taub geworden ist?

Im Alter von zweieinhalb Jahren war der Knabe, nach Aussage der Mutter, nur kurze Zeit unter starkem Fieber und heftigen Kopf- und leichteren Rückenschmerzen, begleitet von Bewußtlosigkeit, krank gewesen, hatte dabei kaum über das Ohr geklagt, allein als er aufstehen sollte, konnte er sich nicht erheben, er fiel um bei den Gehversuchen, ebenso litt er noch einige Zeit an Schwindel. Das alles verlor sich bald, aber die Empfindungslosigkeit gegen Töne und Geräusch aller Art, die schon während und besonders nach der Erkrankung auffiel, schwand nicht mehr; das Kind war durch eine Hirnhautentzündung taub geworden. Das ist eine und zwar eine der häufigsten Ursachen der erworbenen Taub- und Stummheit.

Ein anderes Bild.

Vor mir steht ein vierzehnjähriges, sonst gut und kräftig entwickeltes Mädchen, das mich mit scheuem, unstetem und mißtrauischem Blicke mustert. Sie hatte früher schon über ein Jahr die Schule besucht und war bei dem Lehrern wegen ihrer raschen Fassungsgabe, ihrer Aufmerksamkeit und ihres Fleißes beliebt gewesen und hatte ihren Platz immer unter den Ersten gehabt. Da bekam sie an ihrem siebenten Lebensjahre das Scharlachfieber, währenddessen sich eine Ohrentzündung auf beiden Seiten entwickelte, die das Trommelfell zerstörte. Deswegen war sie aber damals noch nicht taub, sie hörte allerdings schlechter, aber man konnte noch ganz gut mit ihr reden. Die Eiterung, die sich eingestellt hatte, ließ man ruhig fortschreiten, ohne sich um sie zu kümmern; „es wird schon gut werden von selbst, wenn sie sich entwickelt,“ hieß es. Statt dessen aber ging die Sache einen ganz anderen Weg – der Eiter fraß die Knochen an, die Gehörknöchelchen faulten heraus und von Tag zu Tag nahm ihr Gehör ab, bis sie völlig taub war. Anfänglich sprach sie noch klar, bald aber wurde die Stimmgebung monoton, verschwommen, dann schließlich rauh und unartikuliert; jetzt stößt sie rauhe, harte, unverständliche, tierähnliche, grunzende Laute aus, sie ist taubstumm geworden durch eine vernachlässigte Ohrerkrankung.

Verallgemeinern wir diese zwei der Wirklichkeit entnommenen Fälle, so können wir sagen, daß es in frühester oder früher Kinderzeit erworbene schwere Allgemeinerkrankungen, wie Gehirnhautentzündung, Mumps – auch der scheinbar so harmlose und gutartige Tölpel oder Mumps kann völlige Taubheit zur Folge haben – Scharlach, Diphtherie, Masern sind, aus denen die Kinder, je nach Lage der Umstände, als Taube hervorgehen und, wenn diese Ertaubung vor dem achten Jahre etwa eintritt, taubstumm werden können. Das ist das Gewöhnliche; viel seltener kommt es vor, daß ein Kind sein Gehör durch einen Sturz, Fall, durch Verletzung des Ohres bei den Versuchen, eines hineingeratenen Fremdkörpers habhaft zu werden, durch plötzlichen Schreck oder ererbte Krankheiten verliert.

Wie kommt denn nun eine solche erworbene Taubstummheit überhaupt zustande? Das ist das Wichtigste und Interessanteste für uns. Zu dem Zwecke müssen wir aber zurückgreifen auf die Art und Weise, wie wir hören und sprechen lernen.

Das Ohr kommt gleich dem Auge so ziemlich vollentwickelt zur Welt, deshalb sieht aber und hört ein Neugeborenes noch nicht völlig – es müssen sich erst beide Funktionen allmählich entwickeln. Die Außenwelt, alles was uns umgiebt, ist es, was die Schulung unserer Sinnesorgane bewirkt. Aus unserer Umgebung dringen die Schallwellen als Töne oder Geräusche auf das jugendliche Ohr ein, es in einer gewissen Weise erregend. Jetzt wird das vorher gewissermaßen stumpf gewesene Sinnesorgan zur Aufmerksamkeit gezwungen, es empfängt die Töne nicht nur, sondern es leitet sie weiter auf das Centralorgan über, woselbst sie die Empfindung des Hörens auslösen. Je öfter nun dieser Weg der Sinnesleitung betreten wird, je häufiger er also geübt wird, um so schärfer und deutlicher werden allmählich die einzelnen Klangbilder vernommen und voneinander unterschieden werden müssen. Es werden mithin jetzt die Töne in ihrer verschiedenen Qualität und Reihenfolge ins Gehörcentrum übertragen und von diesem aus findet ein entsprechender Eindruck auf eine andere Gehirnpartie, das Sprachcentrum, statt; von diesem letzteren aus werden sie weiterhin auf reflektorischem Wege auf die den Sinneseindruck auslösenden nervösen Bahnen im stimmerzeugenden Apparate, im Kehlkopf, übergeleitet: das junge Menschenkind versucht den Schalleindruck durch die Stimme wiederzugeben, am Anfange noch unsicher, bald aber treffend.

Dazu kommt nun noch ein weiterer außerordentlich wichtiger Umstand; alle Eindrücke auf unser Gehirn von außen her, mögen sie sein welcher Natur sie nur immer wollen, hinterlassen in ihm Erinnerungsbilder, und es liegt auf der Hand, daß, je öfter solche Sinnesreize eingeleitet werden, das Bild derselben ein um so klareres, schärferes und zugleich mehr und mehr festes, unverrückbares und unvergeßliches werden muß. Was früher viele Mühe gekostet hat, bis es verstanden wurde, durch diese Einübung wird es im Augenblicke gehört und auch richtig erklärt, bezw. gesprochen.

Wir haben instinktiv angefangen zu sprechen. Das aber wiederum beruht auf dem jedem Geschöpfe der Tierwelt eigenen, mehr oder weniger ausgesprochenen Nachahmungstriebe; er ist es, der uns alles, Sprechen, Hören, Sehen, Fühlen und Deuten, im Laufe der Zeit durch die immer und immer wiederkehrende Benutzung und Uebung der betreffenden Nerven lehrt. Und all diese verschiedenen und verschiedenartigsten Bilder muß das jugendliche Gehirn notwendig in sich aufnehmen, um das Vollmaß zur Bildung der Begriffe zu erreichen, ohne welche eine ersprießliche Weiterentwicklung einfach unmöglich ist. Nun ist es aber durch die Erfahrung, durch die mannigfachsten Beobachtungen erhärtet und zweifellos richtig, daß nahezu der gesamte geistige Bildungsstoff dem sich ausbildenden menschlichen Individuum, dem Kinde, nicht auf dem Wege des Sehens, sondern eben hauptsächlich auf dem des Hörens zugeführt wird. Die weitaus größte Anzahl der Begriffe wird uns sowohl in der Familie als in der Schule durch Vermittlung des Ohres, durch die Worte der Eltern und Geschwister sowie der Lehrer eingeprägt.

Die natürliche und unabweisbare Folge einer in der allerfrühesten Kindheit erworbenen sehr hochgradigen Schwerhörigkeit oder Taubheit muß daher darin bestehen, daß ein Kind, das überhaupt keine Töne und Geräusche zugeleitet erhält, vermöge der Funktionszerstörung des Gehörorganes auch keine das Hören betreffenden Erinnerungsbilder sammeln und auf die Sprachsphäre überleiten kann; es wird der Weg zum Sprechen nicht betreten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_636.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)