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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

saßen in der Schule. Alle schlossen sich an den Hofratssohn an, und neben mir wollte niemand sitzen; denn ich war zerrissen und struppig. Und was das Schlimmste war: sie schrieen mich immer an: ,Rädleinsführer!‘ Wegen dem“ – er strich mit der Hand um den Hals. „Ich prügelte ja so viele durch, wie ich konnte; aber es war ein ganzer Haufen. An die Arbeit will ich denken! Und zuletzt kam der Schulmeister mit dem Bakel, und nun mußte mein Buckel herhalten. Da saß ich nun auf der Eselsbank. Die Schule wurde geschlossen, und die ganze Horde wartete draußen und wollte noch einmal mit dem Schimpfwort über mich herfallen. Da kam Struve zu mir und sagte: ‚Komm, Märten, wir wollen zusammen gehen.‘ Und da gingen wir, der vornehme Junge seine silberbeschlagene Bibel, ich meinen zerlederten Katechismus unterm Arm. ‚Kümmere Dich nicht um die Schreier,‘ sagte er. Er nahm mich mit in seinen Garten hinter die Stachelbeerbüsche. Da saß er im Bratenwestchen, ich barfuß, und er sagte immer: ,Nimm Dir die größten, Märten!‘ Das vergesse ich ihm nicht bis an den jüngsten Tag!“

Fieke faßte nach dem Schürzenzipfel.

„Lieber Himmel, wegen ein paar Stachelbeeren!“

„Dummes Weibsvolk!“ donnerte Märten. „Versteht nichts davon, wie es einem Manne ums Herz ist. Euer Verstand geht nicht über Eure Fingerhütchen und Nadelbüchschen hinaus.“

„Na, wenn das so verächtliches Handwerkszeug ist, brauchst Du auch nicht aufzuessen, was damit verdient wird,“ sagte sie bissig und räumte ihre Fladen zusammen.

Einen Augenblick blieb es still. Märten hatte das Stückchen Brot aus der Hand gelegt. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, was ihm nicht einmal geschah, wenn er Steinblöcke herumschrotete.

„Sieh, Fieke, so etwas hätte Struve niemalen gesagt und gethan,“ sprach er leise. Dann ging er nach seinem alten Mauerturm hinüber, dessen spitzes Dächlein scharf in den Sternenhimmel ragte.

Sie fuhr in ihr Häuschen und schlug die Thür zu.


Durch die Wiesen, die von Plane herführten, ritt Konrad von Eichfeld.

Die grauen Augen brüteten vor sich hin; die schönen Brauen waren finster zusammengezogen.

In der Wechslerstube in Plane war man unverschämt geworden, als er borgen wollte, hatte man die Verschreibung der kommenden Ernte verlangt.

Er hatte es freilich toll getrieben in letzter Zeit, drauf los gewagt in diesem widrigen Trischak, den alten schweren Malaga hinunter gestürzt. Gimpel und Tölpel würde ihn niemand mehr nennen. Er hatte gelernt schweigen zu den süßlichen und frivolen Reden der Hofleute, beim Kartenspielen das Geld, das seine Eltern zusammengespart hatten, mit lächelnder Miene verlieren, sich langweilen bei großer Cour.

Aber je mehr er den „Krautjunker“ los wurde, um so tiefer geriet er in Schulden, und wenn er auch lachend darüber seine Witze machte – tief in ihm nagte der Gewissenswurm und ließ ihn nie zum Genuß kommen.

Manchmal im Anfang seiner Laufbahn, wenn Kiliane ihn ansah mit dem Blick, dem Blick, für den man jede Tollheit begehen konnte, hatte er gehofft –

Ach, es war ja Wahnsinn gewesen: in den Eichfeldhof paßte sie nicht. Das stolz zurückgeworfene Köpfchen würde sich schwerlich bücken unter der niedrigen braunen Thür; der kleine Fuß, der gewohnt war, Atlasschuhe auf fürstlichem Parkett zu zerlaufen, vor der ausgetretenen Wendelstiege zurückscheuen. Als Kammerjungfer die ehrliche Grete – wie würde sie lachen!

Wenn er den Eichfeldhof verkaufte?

Es mochte so viel herausspringen, daß er bis zum Kammerherrn dienen konnte, und dann würde ihm Kiliane die Hand nicht versagen.

Das Herz schnürte sich ihm zu. Er sah Hannjörgs treue vorwurfsvolle Augen, der brotlos davon ging; den alten Schecken, auf dem er reiten gelernt hatte, den man tot schindete; Phylax, der durchaus mit ihm gehen wollte, der endlich Prügel deshalb bekam – was sollte das alte zottige Tier hier unter Möpsen und Windspielen?

Und dann mußte er des kleinen Gottesackers gedenken mit dem Erbbegräbnis, wo seine Eltern schliefen, wo die rosa Winden über die niedrige Umfriedung von Feldsteinen hinüber liefen und sich unter den dunklen Epheu mischten, der die alten Denkmäler mit grauen Rittergestalten und Wappen überspann; wo er so manches Mal gesessen hatte, wenn er seine Flur besichtigt, nach den Herden gesehen hatte, von einer Jagd heimgekommen war.

Es war plötzlich, als drängten sich Gestalten, lebende und tote, aber alle ihm lieb und vertraut, um ihn herum …

Helles Lachen ließ ihn auffahren.

Er war an dem Gartenthor angelangt. Die Flügel standen offen. Die Fronbauern aus dem nahen Dorf waren beschäftigt, die weiten Rasenplätze zwischen den steif geschorenen Gängen zu mähen.

Bunte Kleider schimmerten aus dem lichten Grün der Buchen und – das war Kilianes Stimme gewesen.

Konrad sprang vom Pferd, übergab es einem der Leute und eilte dem Klange nach.

Am Eingang der Pappelallee, die zwei Sphinxe bewachten, stand Kiliane. „Wenn die Herren und Damen auch dagegen streiten, ich bleibe dabei: Mähen ist künstliche Arbeit; keiner von Ihnen vollführt sie,“ hörte er sie sagen.

Jetzt wandte sie sich um. Nein, er täuschte sich nicht: ein rasches Rot flog wie eine Morgenwolke über ihr schönes Gesicht. Und der Spott war aus ihren Zügen hinweggewischt. Sie hatte den nachdenklichen Ausdruck noch nicht verloren, der durch Struves Mahnung heute morgen hervorgerufen worden war.

Der Stallmeister, forsch wie immer, rief zurück: „Das wollen wir doch sehen!“ nahm einem der Mähder die Sense ab und that einen Streich. Das Eisen blieb in der Erde stecken.

Der erste Kammerherr stelzte heran; er vermochte die Sense kaum zu heben.

Sie ging von Hand zu Hand. Wie zerhackt lag das Gras, zu hoch, zu niedrig abgesäbelt, eine Wüstenei.

Lachend trat Konrad heran. Den Stulphandschuh abstreifend, ergriff er die Sense.

Zuerst dengelte er sie richtig, wenn auch die Damen darüber die Fingerchen in die Ohren steckten. Dann nahm er sie ruhig in die kräftigen Hände. Und nun that er den ersten Hieb. Eine lange gleichmäßige Schwade bedeckte den Boden; ein zweiter Streich – und abermals fielen die grünen Halme, die goldgelben Butterblumen.

Die Gesellschaft sah stumm zu. Aber keiner sprach das Wort: Krautjunker.

Wie er so vorwärts schritt, gleichmäßig die Sense führend, den dreieckigen Hut auf der weißen Perücke, das Handgelenk von Brüsseler Spitzen umkräuselt, ein leichtes Lachen um die roten Lippen, kaum rascher atmend bei der schweren Arbeit, sah er nicht aus wie ein gemeiner Mann. Es war der Herr, der die Arbeit that, nicht der Knecht.

Kein Mann liebt es, wenn ein anderer die Aufmerksamkeit der Damen erregt. Die Gesellschaft zerstreute sich.

Konrad bemerkte es nicht. Als habe er die Umgebung vergessen, so mähte er weiter bis ans Ende des Platzes.

Dann gab er die Sense aus der Hand, trocknete leicht mit dem Spitzentuch die Stirn. Sein Auge suchte Kiliane.

Wie so ganz anders sah sie aus als sonst. Wie eine sehnsüchtige Frage, die sich scheu kaum hervorwagt, kam ihr Blick zu ihm herüber.

Mit raschen Schritten war er neben ihr. „Das Fräulein ist verändert; was ist geschehen?“ drang er in sie. „Hat das Fräulein einen Wunsch? Steht es in meiner Macht, ihn zu erfüllen?“ fuhr er eifrig fort.

Sie sah ihn an, als wolle sie ihm bis in den Grund seiner Seele schauen. „In Seiner Macht wohl – und doch! – ich weiß nicht, ob Er es vermag.“

„Warum?“ fuhr er auf. „Stelle mich das Fräulein doch auf die Probe! Was ist’s?“

Sie stand vor ihm neben der Sphinx.

Langsam sprach sie: „Nun, so rate der Junker! Es ist zweierlei, was ich ersehne, und doch gehört eines zum andern. Es ist mir zum Hohne zugesellt, seit ich in die Wiege gelegt wurde, es begleitet mich überall, und doch besitze ich es nicht, wie ich es auch ersehne, dem Tantalus gleich, der im Anblick des Labsals

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_616.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)