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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

in noch höherem Maße in Anspruch nimmt. Von Lilis Vater ist vorhin ein Brief gekommen, in dem er seine Tochter zurückverlangt.“

„Ich denke, er ist ein Mensch, dem man ein junges Mädchen unter keiner Bedingung anvertrauen kann?“

„Allerdings, aber gesetzlich steht ihm das Recht der Bestimmung über seine Tochter zu. Nach Ansicht der Herren vom grünen Tisch ist dieser Mann noch immer ein besserer Berater und Hüter seiner Kinder als die ehrbarste Frau. Er hat noch keine Strafen abzubüßen gehabt, folglich ist er ein ehrenhafter Mensch.“

„Aber Du kannst doch nicht im Ernst daran denken, ihm die Kleine wieder zu überlassen?“

„Gewiß nicht! Wenigstens werde ich jedes Mittel versuchen, mein moralisches Recht geltend zu machen. Ich glaube mich auch nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß es sich zunächst nur um eine Gelderpressung handelt. Die ganze Art, wie der Brief gehalten ist, läßt darauf schließen, daß der Elende gegen eine bestimmte Zahlung seine augenblicklichen Ansprüche aufgeben werde; denn im Grunde muß ihm die Tochter doch nur eine Last sein, wenn er auch schreibt, daß ihm in seinem augenblicklichen Geschäft – Gott weiß, worin dieses Geschäft besteht! – eine weibliche Hilfe nötig sei.“

„Nun, so zahle! Auf ein paar hundert Mark wird es wohl nicht ankommen.“

„Selbstverständlich nicht. Was mich im Augenblick aber mehr beschäftigt, das ist die Frage, wie man das Kind in Zukunft vor diesen Wünschen des Vaters sicherstellen und etwaigen neuen und gesteigerten Geldforderungen vorbeugen kann.“

„So frage Deinen Anwalt oder sprich zunächst einmal mit ein paar vernünftigen Männern, die Dir vielleicht zu raten vermögen – mit Boße oder Wildenberg.“

„Soviel wie die beiden weiß ich auch von jnristischen Dingen.“

„Nun ja, mein Herz, ich will Deinen Kenntnissen durchaus nicht zu nahe treten, aber andere sehen doch die Sache mit anderen Augen an und da ergiebt sich leicht ein neuer Gesichtspunkt. Wie wäre es, wenn wir Wildenberg zu Tisch herüberbitten ließen? Du weißt, ich unterhalte mich gern mit ihm. Nach dem Essen hast Du dann Gelegenheit, diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen.“

Hellas Gesicht verfinsterte sich. „Meinst Du nicht, daß Du zu entgegenkommend bist?“

„Aber Beste, bei mir hat es doch wahrhaftig keine Gefahr! Eine alte Frau, Mutter von drei halberwachsenen Kindern! Nein, ich glaube, Du kannst ganz ruhig sein. Wildenberg wird keinen Johannistrieb in meinem Herzen voraussetzen, sondern meine freundliche Teilnahme als das nehmen, was sie ist. Außerdem ist er der Held des Tages uud hat fast ein Recht, gefeiert zu werden. Ich hoffe daher, Du läßt mir und ihm zu Gefallen ein paar Flaschen Champagner kalt stellen. Das hebt die Stimmung.“

„Wenn es durchans Dein Wunsch ist –“

„Ja, was kannst Du denn dagegen haben? Man könnte meinen, Du fürchtetest Dich, mit ihm zusammenzukommen, wüßten wir nicht alle, daß Du mit dem undurchdringlichen Panzer Deiner Prinzipien gewappnet bist.“

Der gutmütige Spott verfehlte nicht seine Wirkung. Hella gab noch und schickte zum Oberinspektorat hinüber, um die Herren einzuladen.

Der Vorschlag der Gräfin in Betreff des Champagners erwies sich als ein vortrefflicher, denn die Stimmung der kleinen Tafelruude, die sich um die Mittagszeit im Schloß zusammenfand, war zuerst ein wenig frostig und steif. Wildenberg und Hella vermieden es, mehr als das Rotwendigfte miteinander zu sprechen; nur der Oberinspektor erging sich in wortreichen lauten Schilderungen der nächtlichen Erlebnisse, wobei ihn die Gräfin, die ihren Spaß daran hatte, launig unterstützte. Sieh, sieh, dachte sie, die beiden andern beobachtend, es hat etwas zwischen ihnen gegeben – keine direkte Aussprache, aber doch etwas dem Aehnliches!

Wildenberg wies die übertriebenen Lobeserhebungen, die ihm von dem Oberinspektor zuteil wurden, fast ärgerlich zurück. Es war ihm durchaus unangenehm, zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht zu werden, und doch verletzte es ihn zugleich, daß sich die Schloßherrin mit keiner Silbe daran beteiligte. Er sah, daß ihre Augen mehr als einmal auf seiner verbundenen linken Hand hafteten, aber sie fragte nicht, ob er Schmerzen habe oder ob die Brandwunden schlimmer Natur seien. Die frohe Stimmung, in der er vormittags das Pfarrhaus verlassen hatte, erlosch auf diese Weise, und nur die gutlaunige Heiterkeit der Gräfin und der prickelnde Reiz des Champagners vermochten es, ihn dem Unmut zu entreißen, der ihn zu beherrschen drohte.

Nach Tisch, als man beim Kaffee unter der Säulenhalle saß, holte Hella den Brief von Lilis Vater herbei und las ihn vor, indem sie die Herren bat, mit ihrer Meinung nicht zurückzuhalten. Herr Boße war auch gar nicht zurückhaltend, sondern schlug mit der Hand schallend auf den Tisch, für welche Freiheit er sich sofort bei der Gnädigen entschuldigte, und rief, der Kerl verdiene für seine Unverschämtheit in Stock und Eisen gelegt zu werden. Da das aber der einzige Rat war, den er zu geben vermochte, so überließ er bald Wildenberg das Wort, auch seine Meinung zu äußern. Hella hatte ihn bisher nicht angesehen, aber die Gräfin, die ihn beobachtete, war erstaunt über den Ausdruck peinlichen Schmerzes, der sich in seinem Gesicht aussprach. Wie sich Hella jetzt zu ihm wandte, fiel es auch ihr auf uud sie stutzte.

„Gnädiges Fräulein,“ begann er rasch, „Sie wollen und können doch nicht daran denken, einem Mann, wie Sie ihn eben schilderten, irgend ein Recht über Fräulein Lili einzuräumen.“

„Ich glaube, daß ich gesetzlich dazu verpflichtet wäre. Aber es handelt sich eben darum, einen Ausweg zu finden, der den Mann zum Verzicht auf dieses Recht bringt.“

„Dieser Ausweg könnte nur in einem beglaubigten Verzicht von seiten des Vaters und in einer Adoption von Ihrer Seite bestehen.“

„Oder in einer Heirat!“ warf die Gräfin dazwischen

„Ich wüßte nicht, was die Kleine dabei gewinnen sollte!“ rief Hella scharf. „Sie ginge nur aus der Gewalt und Vormundschaft des einen Mannes in die eines andern über! Mit ihrer Carriere wäre es in beiden Fällen vorbei.“

„Ah bah, Carriere? Thorheit!“ warf die Gräfin dazwischen.

„Wollen Sie mir gestatten, gnädiges Fräulein, noch heute nach der Stadt zu fahren und mit einem Rechtsanwalt Rücksprache zu nehmen?“ fragte Wildenberg eifrig.

„Ich danke Ihnen, ich kann das ganz gut allein abmachen.“

„Vergeben Sie mir, wenn ich aufdringlich erscheine – aber der Gedanke, daß Fräulein Lili uns verlassen könnte, mit der Aussicht auf ein solches Los, geht mir so nahe, daß ich nicht unthätig zur Seite stehen kann. Ich bin fassungslos dem Unerwarteten gegeuüber.“

Er sprach unbedacht aus, was er empfand, ohne zu überlegen, wie seine Worte etwa von den Anwesenden aufgefaßt werden würden. Offenbar ging ihm die ganze Sache sehr nahe. Die Gräfin lächelte vor sich hin, Hellas Gesicht aber blieb undurchdringlich. Herr Boße schlug nur vor, selbst zu Herrn von Wentzel hinzufahren und ein verständiges Wort ohne Zuhilfenahme juristischer Einmischung mit ihm zu sprechen, doch auch das wurde von Fräulein von Ostrau abgelehnt. Sie hatte jetzt offenbar ihren Entschluß gefaßt, mit dem festen Vorsatz, sich darin durch nichts erschüttern zu lassen. Diese Wahrnehmung wirkte verstimmend auf die Anwesenden, und die Gräfin gab ihrer Mißbilligung offen Ausdruck, indem sie aufsprang und achselzuckend, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in den Garten hinausging. Sie gab damit das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

Eine Viertelstunde später traf Lotti ihre Cousine allein. Hella hatte wohl ihren Eintritt überhört und stand am Fenster, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt. Als die Gräfin die Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen und wandte sich hastig um, wie unwillig über die Störung.

Lotti erschrak über den entgeisterten starren Ausdruck des blassen strengen Gesichts. „Nun?“ sagte sie leichthin „Bist Du zu irgend einem Entschluß gekommen?“

„Mit Bezug auf Lili?“

„Ja.“

„Gewiß – ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß es das beste ist, sie in sicherer Begleitung ihrem Vater zu schicken und ich werde das morgen thun.“

„Das kann, das darf nicht Dein Ernst sein!“

„Ich bin bei reiflichem Nachdenken anderer Ansicht geworden. Wie ich den Mann kenne, wird ihm die Tochter höchst unbequem sein. Er hat nicht darauf gerechnet, daß wir seiner Forderung freiwillig nachkommen, und wird uns das Mädchen binnen kurzem wieder zurückschicken und sich hüten, sie ein zweites Mal zu verlangen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_592.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)