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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

War der blasse junge Meister wirklich so versenkt in fromme Gedanken und heilige Darstellungen? Langsam näherte sie sich ihm. Die Seide ihrer Robe knisterte leise, da sie ihm gegenüber trat.

Seine Lider blieben gesenkt, sein Blick auf seiner Hände Werk gerichtet.

Es war die Nonne Gertrudis, ein kleines Meisterstück. Er that eben an dem blonden Köpfchen den letzten Strich, der den reizenden Mund so eigentümlich mit einer halb schelmischen, halb weichen Linie abschloß.

Es durchfuhr Kiliane bis in die Fingerspitzen: sie erblickte ihr reizendes Miniaturbild.

Mit stockendem Atem beugte sie sich vor.

Im selben Augenblick zerbrach die Wachsfigur in den schlanken nervigen Fingern des düstren Meisters. Gleichgültig warf er die Stücke in die über blauer Spiritusflamme stehende Pfanne.

Empört, und doch von einem Schauder überrieselt, den sie weder erklären, noch bewältigen konnte, schaute Kiliane auf den Bossierer; er schien noch blasser geworden zu sein.

Ein kurzer Blick von Timotheus traf beide. „Haben Ihre Durchlaucht nichts für das Fräulein von Heymbrot zu thun?“ ließ sich seine behagliche Stimme vernehmen.

Im nächsten Augenblick lag eine Strähne rote Seide in Kilianes Händen, vom ersten Kammerherrn überbracht, und Konrad stand vor ihr, allen andern den Rang als Garnwinde ablaufend.

Während sie die zarten Fäden von seinen Händen löste flüsterte er: „Warum nützt das Fräulein jede Gelegenheit, um mich zu kränken?“

Sie antwortete nicht, hörte nicht, was er sprach, sah mit verstörten Augen an ihm vorüber.

Da knäuelten seine Finger ohne Rücksicht die Seidensträhnen zusammen.

Sie hielten ein rosiges Wirrsal in den Händen.

Eine Flötenuhr schlug und spielte ein Schlummerlied.

Die Fürstin erhob sich, um in ihr Leibzimmer sich zurückzuziehen.

Als die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, glitt der erste Kammerherr an Eichfeld heran. „Kommt der Herr noch mit auf mein Zimmer zu einer Partie Trischak?“ flüsterte er. Das gefährliche Hazardspiel war verboten.

„Ja, ja, ich komme,“ erwiderte Eichfeld zerstreut, mit zornigem Blick noch einmal Kiliane suchend.

Auch sie sah ihn jetzt rasch an. Welch harten Ausdruck die zarten Züge tragen konnten! Fast verächtlich wandte sie das Köpfchen ab.

Er biß die Lippen zusammen und stürzte fort.

Der Arbeitssaal leerte sich. Das leise Schleifen der Schuhe auf dem spiegelnden Parkett verhallte, die Stimmen verloren sich in Korridoren und Treppen.

Nur Kiliane hatte unter dem Beistand der Garderobenmädchen noch eine Weile zu schaffen an den Schränken. Reihum mußten die Hofdamen die kostbaren Stoffe verwahren. Die Woche war an ihr.

Es war still im Schloß geworden.

Aber von draußen tönte ein Brausen herein: der Tauwind hatte sich erhoben. Die Bäume im Schloßgarten ächzten, in den weiten Schornsteinen tobte der Wind wie ein Gefangener.

Die Dienerinnen knixten und eilten ihren Kammern zu.

Als die letzte ging Kiliane.

Ihre Gedanken wurden wie von einer unsichtbaren Gewalt immer wieder zurückgetrieben zu Severin.

Sie konnte des Entsetzens nicht Herr werden, das sie empfand, als ihr kleines Ebenbild im Nonnenschleier in den blassen Fingern zerdrückt wurde.

Sie kannte sonst keine Furcht, wie die meisten Menschen, die nichts zu verlieren haben.

Heute aber überrieselte sie ein unheimliches Gefühl, als sie, eine Kerze in der Hand, durch die öden Prunkgemächer ging, welche sie durchschreiten mußte, um auf den Korridor zu gelangen.

Es blies ein kalter Hauch durch alle Schlüssellöcher; in dem Audienzsaal schienen Schatten aus den schweren Purpurbehängen des Thronhimmels zu huschen.

Ihr Fuß zögerte, bevor sie den gelben Saal betrat. Spukhafte Gerüchte gingen über ihn: im großen Spiegel, der von der Decke bis zum Boden reichte, sollten sich Gestalten zeigen, die nicht davor standen.

Mit leisem Grauen öffnete sie die Thür. Der Geruch von Weihrauch, der die Kapelle nebenan erfüllte, kam ihr entgegen. Das Licht ihrer Kerze schwankte auf dem gelben Atlas der Wände und krummbeinigen Sessel und blitzte aus den vergoldeten Schildern der Wandleuchter.

Einen scheuen Blick warf sie nach dem gespensterhaften Spiegel – da – ein erstickter Schrei brach über ihre Lippen – in dem schweren Bronzerahmen stand ein schmaler schwarzer Schatten, nicht ihr eigenes farbiges Bild.

Gewaltsam sich fassend, blickte sie noch einmal hin.

Der Schatten war verschwunden; aber das hohe Glas zitterte wie eine Wasserfläche, und aus dem schwankenden Grund starrte jetzt ihr Antlitz sie wunderlich verzerrt an.

Der Leuchter entfiel ihrer Hand, daß er klirrend am Boden rollte – die Kerze erlosch.

Von Entsetzen geschüttelt, floh sie aus dem Saal, die Treppe hinauf und in ihr Mansardenzimmer.

Keuchend rang sie nach Atem.

Da tönte leises Psalmodieren von der Kapelle unten. Klagend mischte es sich wie Bußgesang in die heulende Stimme des Frühlingssturmes, der mit seinem mächtigen Atem alles Leben in der Natur aufweckte.


Wie Grau in Grau gemalt ragte die alte Neidecke hinter ihren zinnigen Ringmauern empor. Die Fensterreihen der stolz sich aufschwingenden Fassaden lagen öde. Langsam zerrann der Schnee auf den Giebeln. Wie mit toten Augen schauten die steinernen Statuen, die das grünspanüberzogene kupferne Dach umstanden, über die vereinsamten Gärten, Rennbahnen und Reitplätze hin.

Das Ticktack der Schloßuhr tönte geheimnisvoll hernieder, an die unaufhaltsam ablaufende Zeit gemahnend.

In einem Vorzimmer des Schlosses harrte, schwerer Sorgen voll, Struve, jeden Augenblick gewärtig, mit den Aktenstücken, die er unter dem Arm trug, in das Audienzgemach berufen zu werden.

Es war eine wichtige Angelegenheit, die jetzt von Fürst und Kanzler beraten wurde. Sie betraf den Protest des Herzogs von Weimar gegen die Erhebung des Grafen Anton Günther in den Fürstenstand. Der Prozeß, den die beiden gekrönten Häupter derohalb seit länger als einem Jahrzehnt beim Reichskammergericht führten, war nun so weit verwickelt, daß es weder vorwärts noch rückwärts mehr ging.

Da sendete gestern der Herzog ein Ultimatum. Er drohte mit Besetzung des lehnspflichtigen Landes, wenn der Fürst seine Ansprüche nicht voll anerkannte.

Minute auf Minute verging – der Geheimsekretarius wurde nicht zu seinem Fürsten beschieden. Seine Vorschläge zu einem gütlichen Vergleich mit Weimar, die er ausgearbeitet hatte, begehrte Serenissimus nicht zu hören.

Jetzt führte der Sturm zwölf Glockenschläge in die Weite: die Stunde der Audienz war vorüber.

Die Thür öffnete sich; rückwärts schritt der Kanzler unter tiefen Verbeugungen heraus. Dann richtete er sich auf und ging gravitätisch die Marmortreppe hinab, gefolgt von seinem Sekretarius.

„Wessen haben wir uns zu gewärtigen?“ fragte Struve gespannt.

„Nur der Huld und hohen Gewogenheit,“ erwiderte der Kanzler, den Abglanz der Gnadensonne noch auf dem Antlitz.

„Serenissimus waren gerade mit Dero Münzsammlung beschäftigt. ,Es ist alles eitel‘ geruhten Sie zu sagen; ,ob der Mensch die Welt in Brand gesteckt hat wie der lorbeerbekränzte Nero auf dieser römischen Münze, oder schon in der Wiege gestorben ist wie der kleine Prinz auf dem Silberthaler dort, dem seine Eltern den Gedenkspruch prägen ließen: „in Thränenbächen“ – was ist von der Macht, der Furcht, der Liebe, dem Schmerz übrig geblieben? Die Münzen haben verschiedene Bilder; das ist alles.‘ Welcher Esprit!“

Struve meisterte mühsam seine Ungeduld. „Aber wie lautet die allerhöchste Resolution hinsichtlich des Streitfalles mit Weimar?“

„Abwarten!“ erwiderte der Kanzler. „Seine Durchlaucht klopften mich auf die Schulter und meinten: ,In der Zwischenzeit wird sich schon etwas ereignen, lieber Heymbrot.‘ Ein echt staatsmännisches Wort.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_583.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2022)