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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

zählen viele begeisterte „Wasserratten“ zu ihren Mitbürgern, von denen manche sogar gleich den Wikingern kühn die Ostsee mit ihren kleinen Fahrzeugen durchqueren und den Seglern in Kiel, Stettin und Kopenhagen erhebliche Konkurrenz machen. Aber auch der Fremdenstrom, der mehr und mehr in die Berliner Umgebung dringt, findet eine Fülle des Interessanten, und nicht am wenigsten wird den auswärtigen Besucher die Matrosenstation anlocken, zumal wenn es ihm gelingt, dort die kaiserliche Familie zu sehen und mit anzuschauen, wie der Kaiser selbst die vom Winde schräg geneigte „Royal Louise“ unter vollen Segeln durch die bewegten Fluten führt.


Freiheit.

Novelle von A. von Klinckowstroem.

     (1. Fortsetzung.)

Am Tage nach seiner Ankunft wurde Wildenberg früh morgens mit den Vögeln wach und kam vor den Hausgenossen als erster in das Frühstückszimmer. Es gab erstaunte Blicke und mißbilligendes Kopfschütteln, als er dann sein nächtliches Erlebnis berichtete, denn in diesem geordneten regelmäßigen Haushalt war man an dergleichen Sonderlichkeiten nicht gewöhnt und in Sorge, wie die „Gnädige“ die Sache aufnehmen werde. In seiner Unbefangenheit merkte er indes nichts davon und begann mit Eifer seinen Tag auf die zweckmäßigste Weise einzuteilen. Es interessierte ihn, Dampfpflug und Säemaschine in Thätigkeit zu sehen, und er begleitete den Oberinspektor zu diesem Zweck auf die hinter dem Pastoracker gelegenen Felder. Es traf sich dabei, daß der Pfarrer Lewrenz mit seiner kleinen Schar zu einem Morgenspaziergang auszog und bei den Herren stehen blieb, um die Bekanntschaft des Fremden zu machen. Die Kinder sprangen voraus, nur die beiden großen Mädchen, Anna Lewrenz und Lili Wentzel, hielten sich dem Vater zur Seite und boten Wildenberg freundlich die Hand. Dieser erzählte, daß er sie schon gestern abend durch die Hecke bemerkt habe – da wurden die beiden rot und Anna senkte in unbeholfener Verlegenheit den Kopf, während Lili hell auflachte – Wildenberg glaubte, noch nie ein reizenderes Lachen gehört zu haben. Lili war ein zierliches graziöses Geschöpf voller Leben und Bewegung. Das einfache blaue Morgenkleid umschloß knapp die anmutige Gestalt, und wie sie jetzt den häßlichen braunen Strohhut abnahm und ihr weißes Gesichtchen, dessen haselnußfarbene Augen etwas von dem Glanz des Goldtopas besaßen, unbekümmert der Sonne preisgab, spielte der Morgenwind mit den luftigen dunklen Löckchen, die sich liebkosend um Stirn und Nacken schmiegten.

Während Wildenberg sich von dem Geistlichen unterhalten ließ, hörte er zu, wie sie lustig die Neckereien des Oberinspektors beantwortete, und verwünschte seine Unbeholfenheit jungen Mädchen gegenüber, die ihn verhinderte, ebenfalls einen heiteren leichten Ton mit ihnen anzuschlagen. Wie linkisch mußte es Lili erscheinen, daß er kein Wort für sie fand! Ein wenig verstimmt zu Boden blickend, sah er plötzlich zu seinen Füßen ein vierblätteriges Kleeblatt, und rasch sich bückend, pflückte er es und stand nun vor ihr, das kleine grüne Ding unsicher zwischen den Fingern drehend.

„O,“ rief sie unbefangen, „ein Vierklee! Bitte, schenken Sie es mir! Sie wissen ja! daß es dem Finder kein Glück bringt, sondern nur dem, der es geschenkt erhält?“

„Und ich soll ganz leer ausgehen?“ scherzte er.

„Einen schönen Dank sollen Sie haben!“ Sie zog eine flache silberne Kapsel hervor, die sie um den Hals unter dem Kleide trug, und legte das Blättchen hinein. „Da, nun kann mir kein Unheil begegnen! Sie lachen mich wohl aus? Kluge Leute wie Sie sind über dergleichen erhaben, aber ich glaube daran und strecke gern dem Glück eine kleine Handhabe entgegen, an der es sich bei mir, wenn auch nur ganz aus Versehen, festhaken kann.“

„Das Glück müßte doch ganz thöricht sein, wenn es sich von Ihnen nicht willig festhalten ließe. Ich kann Ihnen übrigens noch eine ganze Reihe einschlägiger Mittel nennen.“

„Da bin ich aber begierig! Wenn Sie mir etwa vorschlagen wollen, silberne Pilze oder Schweinchen an der Uhr zu tragen, so muß ich Ihnen sagen, daß sich das in meiner Praxis nicht bewährt hat.“

„O nein, meine Auskunftsmittel sind bedeutend tiefsinniger. Zur Zeit des Neumondes stellen Sie sich so, daß Sie die Mondsichel über die rechte Schulter hinweg erblicken, und sprechen dabei:

‚Eins zwei drei!
Guter Mond, ich bin so frei,
Bitt’ dich, wenn du kehrst zurück,
Bring’ mir mit ein wenig Glück!‘

Nun, Was sagen Sie dazu?“

Sie wiederholte den Spruch, und dann lachten sie beide. Dazwischen hinein erklang ein Zetergeschrei. Das jüngste der Pfarrerskinder war über einen Stein gefallen und hatte sich das Näschen arg zerstoßen. Lili sprang schnell hinzu und hob den kleinen Schreihals auf, ihn mit scherzhaften Worten beruhigend. Wie sie das Kind, welches schluchzend das blonde Köpfchen an ihre Schulter barg, sorglich in den Armen hielt, bot sie ein überaus liebliches Bild.

Die Unterbrechung gab Veranlassung zum Aufbruch für die Spaziergänger, und Wildenberg hatte nur noch Zeit, dem jungen Mädchen zuzurufen: „Auf Wiedersehen bei Tisch!“ Sie hatte aber offenbar noch keine Aufforderung vom Schloß erhalten und schüttelte verwundert den Kopf.

Es war ihm ganz froh und leicht zu Sinn und der Pflichtenkreis, der für den Vormittag noch vor ihm lag, dünkte ihn eher ein Vergnügen als eine Arbeit. Mit Spannung sah er der Mittagsstunde entgegen.

Lili war schon da, als er um ein Uhr ins Schloß hinüberkam, wenigstens sah er ihren Hut auf dem Vorplatz hängen. Aber als ihm der Diener die Thür zum Gartensaal öffnete, der als allgemeiner Empfangs- und Wohnraum diente, sah er nur die stolze Gestalt der Hausherrin, die in der Mitte des Gemachs stand und ihm entgegenblickte. Heute, in dem weichen dunkelgeblümten Foulardkleide, ein zartes Rot auf den Wangen, in den blauen Augen einen freundlichen Ausdruck, erschien sie ihm weniger statuenhaft und unnahbar, dafür aber weiblicher als gestern abend im Mondschein. Ihre ganze Umgebung stand mit ihr in Einklang. Da war nichts Häßliches oder Kleinliches; jedes Stück der Einrichtung, deren sanfte Farben mit dem dunklen Ton der Wände und dem weißen Stuck der Decke zusammenstimmten, war mit gefälligem Geschmack geordnet.

„Ich freue mich, daß Sie zu den pünktlichen Menschen gehören,“ sagte sie, ihm die weiße kräftige Hand reichend. „Willkommen! Darf ich Sie zunächst meiner Tante Lina vorstellen, und hier, meiner Lili, Fräulein von Wentzel!“

Jetzt erst wurde er die anderen gewahr, die ältliche Dame mit dem guten sanften Gesicht und das junge Mädchen im weißen Waschkleidchen; die beiden erschienen ihm aber für den Augenblick nur wie eine nebensächliche Staffage, so vollständig erlosch die ganze Umgebung in Gegenwart von Hellas imponierender Erscheinung.

„Das sind meine Lieben alle!“ fuhr die Schloßherrin fort, die beiden heiter umfassend. „Und man wird uns das Zeugnis geben, daß wir ein verträgliches Kleeblatt sind, dessen Eintracht bisher noch durch nichts gestört wurde.“

Gleich darauf ging man zu Tisch und Wildenberg erhielt seinen Platz zwischen Hella und Lili. Das Gespräch war lebhaft und angeregt und bewegte sich zumeist um Politik und Nationalökonomie, auf welchen Gebieten Fräulein von Ostrau sich vollständig sattelfest fühlte. Sie hatte die Rede sehr in ihrer Gewalt und verstand, fesselnd und glänzend zu sprechen; Wildenberg hatte Mühe, sich neben ihr zu behaupten und seine Ansichten, welche von den ihrigen abwichen, durchzufechten. Er aß nur wenig und zerstreut, wußte kaum, was ihm gereicht wurde, und war einzig erfüllt von dem Bestreben, sich dieser bedeutenden Frau gegenüber keine Blöße zu geben. Ihre Wangen röteten sich bei dem Gefecht, das sich so entspann, es kam Leben und Bewegung in das streng geschnittene Gesicht, offenbar gewährte es ihr Vergnügen, vielleicht zum erstenmal seit langer Zeit einen Gegner zu haben, der ihr nicht nur ebenbürtig, sondern in vielen Dingen überlegen war. „Genug!“ rief sie endlich lachend. „Lassen Sie uns Waffenstillstand schließen! Sie sehen, meine Tante und Lili sind bereits gänzlich verstummt.“

Es fiel ihm das jetzt erst auf – er hatte gar nicht mehr an die beiden andern gedacht und wandte sich ihnen nun mit einer höflichen Entschuldigung zu. Lili schälte gerade einen Apfel,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_559.jpg&oldid=- (Version vom 20.7.2023)