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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sie blaß. So wurde mir ja auch! Aber sie wußte es ganz gewiß. Und – – mit einem Herrn!

Durchgegangen mit einem Herrn? fragte Volkmar, als überrasche ihn das sehr. Also mit dem Herrn von Fellenberg –

Ach nein! Nicht mit dem! – Das ist ja so schrecklich. Mit einem ganz Andern – Geßmann soll er heißen – ein blutjunger Mensch. Und vorher hat ae noch einen Andern dazu nehmen wollen; der hat aber nicht gewollt. Und an den Direktor hat sie in dem Brief geschrieben: sie pfeift auf ihn und sein Theater und die ganze Stadt! Und Herr von Fellenberg hat laut gesagt: er wird sich nicht das Leben nehmen, er freut sich, daß er sie los ist –

Jetzt hör’ auf! rief Toni und rannte fort. Sie stürmte ihre Treppe hinan. Oben, schien es, blieb sie stehn. Man konnte ihr lautes, heftiges Atmen hören. – Toni! rief Helene und wollte ihr nach.

Laß sie, sagte Volkmar leise. Er zog das Mädel sacht zur Thür und in sein Speisezimmer hinein. Nur Zeit lassen, fuhr er dann fort. Setz’ Dich, liebes Kind. Dir ist’s natürlich auch in die Glieder gefahren; – ja, was sind das für Schauermären über die Himmlische. Das Leben hat Täuschungen; was? – – Will nur einmal horchen, was die Andre macht!

Er öffnete leise die Thür. Toni saß auf ihrer Treppe, er konnte sie bis zu den Knieen sehn, weiter nicht. Eine ihrer Hände erschien nahe am Geländer; sie nahm etwas aus der andern Hand, wie es schien, und warf es auf Volkmars Vorplatz hinab. Ein kleines weißes Blättchen war’s; offenbar von dem Schneeglöckchen. Fünf andere folgten nach; dann auf einmal der ganze Rest.

Vater! rief aber jetzt eine jubelnde Baßstimme von unten herauf. Da bin ich!

Mit großen Sprüngen kam Rudolf nach oben, dem hervorgetretenen Volkmar grade in die Arme. Ich und noch einer sind frei. Die Andern blieben da!

Ein herzhafter, fröhlicher Aufschrei, nur ein wenig zitternd, ward auf der oberen Treppe laut; Toni sprang herab. Sie vergaß offenbar ihren großen Schmerz; sie warf sich dem Vetter an die Brust wie ein junger Panther. Dann erschien auch Helene, Rosen auf den Wangen. Sie gab dem „Sieger“ die Hand. Die Backfische zogen ihn ins Zimmer hinein; nun sah man erst, daß Toni etwas Nasses an den Augen hatte. Aber sie that, als bliese sie auf einer Trompete, und ging so durchs Zimmer: Trara! Trara! – –

Eine Stunde später saß Vater Volkmar in Rudolfs Zimmer, allein. Tiefe Stille war um ihn her. Die Mädchen waren zur Schule gegangen, Rudolf zu den Tanten und dann zum Gymnasium zurück, jüngeren Mitschülern sich in seiner „Freiheit“ zu zeigen und auf das Schicksal der weniger Glücklichen zu warten. An seinem Schreibtisch saß Volkmar; draußen fiel wieder Schnee, aber windlos, ganz sacht, in großen schimwernden Flocken, als schüttele wirklich Frau Holle ihr Federbett aus. Wie viel wohler war ihm doch heute in diesem Zimmer als drei Wochen früher, da er hier am Fenster stand, den Straßenschnee singen hörte, an die einsame Zukunft dachte – und dann auf die Eisbahn ging, wo er an seines Jungen Seite die „Himmlische“ entdecken sollte. Guter Junge! dachte er. Zwei Prüfungen überstanden; alle beide gut!

Die frohe Feiertagsstimmung drückte ihm die Feder in die Hand; hier an Rudolfs Arbeitstisch – dem von nun an verwaisten – wollte er das „Festgedicht“ gestalten, das ihm auf der Seele lag, mit dem er den Sohn am Abend überraschen wollte. Die Gedanken in seinem Kopf gaukelten auch so heiter und zugleich so friedlich, so sacht, wie draußen Frau Holle’s Federn. Die Verse flogen ihm zu; – es ward aber, wie so oft, anders als er gedacht hatte. Aus einem scherzenden Jubelgedicht ward ein rechter Herzenssang; gleichsam eine Zwiesprach vor dem Scheiden zwischen Vater und Sohn. Er sah, während er schrieb, wohl hundertmal Rudolfs Gesicht: wie das ihn heute Abend anleuchten würde, liebreich und gerührt, wenn die Verse erklängen ... Heute Abeud! dachte er und freute sich wie ein Kind.

Und der Abend kam. Um den großen Tisch im Speiseziwmer saßen die Hausgenossen, Helene als einziger Gast; der Bismarckpokal – des Reichskanzlers Namenszug war in ihn eingegraben – ging mit „Kaisersekt“ gefüllt herum. Die Gesellschaft war klein, aber Toni allein konnte für vier gelten: eine so wilde Lustigkeit war über sie gekommen, sie deckte damit ihre tragischen Gefühle zu. Ihren Champagnerkelch leerte sie wie ein alter Zecher; Rudolf, der übermütige Schelm, beeiferte sich, ihn heimlich wieder zu füllen, ohne daß „Mutting“ es sah. Sie blies zu jedermann Kußhände hinüber, dem einen so, dem andern so: Volkmar hatte sie allerlei Arten gelehrt. Als der Oheim endlich aufstand, um ans Glas zu klingen und eine kleine Festrede zu halten, schnellte sie auch in die Höhe und rief voreilig mit ihrer kraftvollen Stimme: Rudolf der Unmündliche hoch! Hip, hip, hurrah!

Laß sie nur, sagte Volkmar sanft, als die Mutter des Unbands einen etwas zornigen Verweis begann; das war gleichsam Volkes Stimme, und die soll man ehren. Also ja, unser Rudolf hoch! – Aber. eh’ ich zu diesem Jüngling noch ein paar Worte spreche, möcht’ ich das Handwerk begrüßen: meine neuen Kollegen in Apollo, die Blonde und die Braune; diese verjüngte und verniedlichte Wiederholung von Goethe und Schiller – – man weiß nur nicht, wer hier Goethe und wer Schiller ist? Zuweilen denk’ ich, Helene mit den sinnigen grauen Augen hat das Schillersche; dann lodert es wieder mehr aus der feurigen Toni auf, und Helene wird „olympischer“. Jedenfalls geben sie uns ein edles Beispiel, daß man auch das große Drama zu Zweien zusammendichten kann; wenn nur die Herzen ‚schwie‘ und die Wände schwarz sind. Zwei Akte, hör’ ich, sind bereits geschrieben; möchte bald auch hinter dem fünften stehn: der Vorhang fällt!

Toni stand wieder auf, aber mit zusammengepreßten Lippen und finsterem Gesicht. Sie warf eine Orange, die sie in die Hand genommen hatte, über den Tisch.

Das wird nie hinter dem fünften Akt stehen! warf sie dann der Orange nach. Nie, Onkel! Nie!

Oho! sagte Volkmar. Warum nicht?

Weil das Stück im Graben liegt. Da liegt es, Helene; nicht?

Helene zuckte die Achseln; doch dann nickte sie. Ihre grauen Augen gingen in die Höhe.

Volkmar schien sehr bestürzt. Aber meine teuren Schiller und Goethe, ich bin außer mir! Wie soll ich das verstehn?

Toni lächelte bitter, dann schlug sie aber mit der Hand wegwerfend in die Luft. Das wird nicht weitergedichtet! – Wir wollen nicht mehr, Helene; nicht?

Nein, wir wollen nicht mehr, murmelte Helene.

Aber warum nicht, lieber Goethe? fragte Volkmar, zur Aelteren gewendet.

Goethe kannst Du lange fragen, entgegnete Toni; die sagt Dir’s doch nicht, die ist zu genierlich. – Sie knipste gegen ihr Glas: Ach was; ich sag’s doch. Wir schreiben das Stück nicht weiter, weil Thea – –

Rudolf, weißt Du schon? rief sie jetzt über den Tisch, mit einem Anlauf zum Lachen, als laufe sie so ihrem Kummer weg. Thea ist schmachvoll durchgebrannt! Sie läßt Dich schön grüßen!

Daß sie aus dem Thor ist, o ja, das weiß ich, antwortete Rudolf ruhig. Jeder Mensch hat mirs heut’ erzählt.

Er schaute zum Vater hinüber, dessen Blick ihn suchte. Ein ganz eigenes Lächeln verklärte sein Gesicht. Nur durch eine leichte Gebärde sagte er, aber beredt genug: Sei ganz ruhig, Vater. Hier schlägt ihr keine Ader mehr!

Nun also! warf Volknnar hin, als hätte er wirklich Worte gehört. Kehren wir denn zu unserm siebenundzwanzigjährigen Dichter – denn vierzehn und dreizehn machen siebenundzwanzig – zurück! Sein großes Werk, hören wir, liegt am Graben; ein tragischer, gewaltiger Torso, wie die verhauenen Marmorblöcke Michelangelo’s. Nun ja, das ist „feudal“; aber der junge Meister selber steht aufrecht, und seine beiden langzopfigen Köpfe schauen noch frisch und lieblich in die Welt hinaus. In seinen vier Augen leuchtet noch das heilige „Schwie“, das ihn zu dieser Dichtung begeistert hatte; jetzt wohl mit etwas Schwermuth getränkt – aber einem richtigen Menschen thut das ja nichts. Möchte aus diesen vier Augen nie das helle „Schmie“ der Jugend entschwinden! Nie – hört ihr, Mädels – nie! Ihr wißt, wie ich’s nneine. Unser Goethe und Schiller hoch!

Rudolfs Stimme fiel schmetternd ein; alle Gläser klangen. Die Backfische liefen zum Oheim, lächelten, seufzten, dankten, stießen mit ihm an. Dann drückten sie einander geschwind an die Brust. Rudolf öffnete eine neue Flasche, schenkte wieder ein.

Jetzt hätt’ ich noch ein Wort an meinen Jungen, sagte Volkmar, sich setzend; so ein Vaterwort! – Er zog das Gedicht aus der Tasche, das er am Nachmittag festlich abgeschrieben hatte; und während er nun Rudolfs Gedicht so vor sich sah, wie er’s am

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