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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Hause zurückzukehren, sondern sie fuhren einfach leer hinterdrein mit der Motivierung: „No, es wer’n unnerwegs schon noch Soldate müd’ wer’n und dann komme mir doch noch an die Reih’.“

Eine so verführerische Gelegenheit aber war förmlich dazu angethan, künstlich „Müde“ zu erzeugen und mir wurde gar nicht wohl zu Mut, als mir der Feldwebel die Geschichte mitteilte mit dem Zusatz: „Das ist das Richtige für den Gefreiten Tilmanns, den Drückeberger. Der versteht sich aufs bequeme Hinterdreinkutschieren. Wenn der nicht der erste ist, Herr Lieutenant …“

Allein auch der Oberst hatte die Gefahr erkannt und sofort seine Maßregeln dagegen ergriffen, denn die Stimme unseres Premiers unterbrach die Prophezeiungen des Feldwebels: „Regimentsbefehl! Wer auf einem Wagen betroffen wird, ohne vom Arzt krank erklärt zu sein, drei Tage Mittelarrest! Das heißt im mobilen Verhältnis: so und so viel Stunden an einen Baum gebunden! Merkt’s Euch, Kinder!“

Das wirkte! Der Strafe des Angebundenwerdens setzt sich kein Soldat so leicht aus, selbst wenn er sich vielleicht nicht viel aus drei Tagen „Kasten“ gemacht haben würde. Dazu kam heute noch die Ueberlegung, daß ein ärztlich krank Erklärter auch die Aussicht auf das Frühstück aufgeben mußte – und so waren die Leiterwagen noch leer, als wir die Gewehre an den Rändern der großen Gemeindewiese zusammensetzten, deren Mittelpunkt ein von Fahnen überragtes ansehnliches Zeltdach bildete.

Das „kleine Frühstück“, bei welchem die Honoratioren der ganzen Umgegend unsere Wirte machten, verdiente weder der Reichhaltigkeit noch der Güte des Gebotenen nach diese Bezeichnung. Dagegen unterschied es sich aufs vorteilhafteste von manchem großen, das ich vor- und nachher mitgemacht habe, durch die schöne Herzlichkeit, welche zwischen den Vertretern der verschiedensten Lebensstellungen herrschte, die voneinander meistens nicht einmal die Namen kannten. Und vor dieser „gemischten“ Gesellschaft hielt ein kleiner alter Herr von beneidenswerter Rundlichkeit, auf dessen jovialem Gesicht die Morgenröte des neuen Deutschen Reiches schon recht intensiv aufgegangen war, mit weit mehr Patriotismus als Stimme eine herrliche Rede. Wenn dabei sein Organ auch hier und da bei besonderen Kraftstellen umschlug und eigentümlich quiekende und glucksende Laute von sich gab, so beeinträchtigte das die Wirkung nicht im geringsten, denn diese war eine ehrliche, stürmische Begeisterung, und so tranken wir auf den Sieg der vereinigten deutschen Waffen und – zum erstenmal – auf die für alle Zukunft feststehende Einigkeit ihrer Träger. Da noch weitere Reden gehalten wurden, so steigerte sich die Begeisterung, und im direkten Verhältnis zu derselben stand die Zeitdauer des Frühstücks.

Gut war es aber jedenfalls, daß der auf dasselbe folgende letzte Teil unseres Tagemarsches nicht mehr gar zu weit war, denn die Begeisterung unserer Leute hatte schon sehr bedenklich sich zu verflüchtigen angefangen, als wir in unsere Quartiere einrückten. Das Exerzieren an diesem Abend fiel uns allen merkwürdig schwer.

Ganz ähnlich verlief der dritte Marschtag, denn auch am 27. Juli kamen wir nicht „ungegesse un ungetrunke“ durch. Insofern lag an diesem Tag der Fall ungünstiger für uns, als wir das Frühstück nach kaum beendigtem ersten Drittel unseres Tagesmarschs zu überwinden hatten. Und nach demselben erlebte auch unser Feldwebel seinen ersten Triumph über den Gefreiten Tilmanns, worauf er schon an den beiden vorhergegangenen Marschtagen sehnsüchtig gewartet hatte.

Wir waren schon fast zwei Stunden in glühendem Sonnenbrand auf der staubigen Landstraße marschiert, kein Lüftchen regte sich und wie mechanisch setzten die Leute einen Fuß vor den andern.

Aller Frohsinn, aller Humor schien erloschen, und ich blickte mit Besorgnis im Vorüberschreiten in die Sektionen hinein. Obgleich wir die Kragen, sowie die beiden obersten Rockknöpfe schon längst hatten öffnen lassen, bemerkte ich hin und wider, besonders bei dem Gefreiten Tilmanns, unter dem grauen Staubüberzug des Gesichtes jene bläulich-grüne Farbe, die, wie ich leider aus Erfahrung wußte, das Vorzeichen des Hitzschlages ist. Gegen diesen aber hilft bekanntlich nur das rechtzeitige Trinken einer möglichst großen Menge frischen Wassers. Bei den meisten Leuten war die Gefahr dadurch verursacht, daß sie zu viel von dem ungewohnten Wein zu sich genommen, während Tilmanns, wie ich später erfuhr, aus übergroßer Vorsicht, um nicht ausspannen zu müssen, keinen Tropfen davon getrunken hatte, und etwas anderes war nicht zu haben gewesen. Die beiden Extreme hatten also dasselbe Resultat gehabt. Aus meiner Besorgnis riß mich der Anblick eines Dorfes, das in geringer Entfernung vor uns auftauchte. Ein Dorf ohne Brunnen war undenkbar. Ich eilte von Sektion zu Sektion, aufmunternd und ermahnend, im nahen Dorfe recht viel Wasser zu trinken. Aber als wir die Ortschaft erreicht hatten, da lag zwar gar bald vor uns ein stattlicher Laufbrunnen – ob aber auch nur ein einziger von uns mit Wasser seinen Durst gelöscht hat, das habe ich nicht feststellen können, denn überall standen Männer mit „Stützen“ und – ich habe kein Wasser getrunken.

Als wir den Ort im Rücken hatten, waren die bedrohlichen Anzeichen verschwunden, Stimmung und Haltung der Leute war vortrefflich und munter ging es vorwärts. Auch Tilmanns, dem man tags vorher gegen Ende des Marsches die Anstrengung deutlich angemerkt, machte jetzt wieder einen frischen Eindruck, denn sein Gesicht zeigte eine leichte gesunde Röte und seine Augen glänzten vergnügt.

„Na, Tilmanns,“ rief ich ihn an, als ich wieder nach vorne ging, „Sie sehen ja merkwürdig mobil heute aus. Das Marschieren scheint Ihnen vorzüglich zu bekommen.“

„Jawohl, Herr Lieutenant!“ erhielt ich zur Antwort. „Ich habe mich rascher wieder eingewöhnt, als ich selbst geglaubt habe. Heute könnte ich noch stundenweit marschieren.“

Noch war aber keine halbe Stunde vergangen, da kam der Feldwebel eilig an mich heran und brachte mir die völlig unerwartete Meldung: „Soeben ist der Gefreite Tilmanns umgefallen, Herr Lieutenant. Das Verzieren der Chausseegräben geht los!“ Trotz des brummigen Tones der Meldung war eine gewisse Genugthuung in demselben nicht zu verkennen, war doch seine Voraussagung so rasch in Erfüllung gegangen.

„Was? Umgefallen? Der Gefreite? Alle Hagel, da muß etwas Ernsthaftes los sein. Kommen Sie mit, Feldwebel!“ und ich eilte zurück. Richtig, dort stand der Sektionsführer und daneben im Graben saß der Gefreite, doch schlimm sah die Geschichte nicht aus, wenigstens nach dessen blühender Gesichtsfarbe zu urteilen.

„Donnerwetter, Tilmanns! Was machen Sie denn auf einmal für Geschichten? Wo fehlt’s eigentlich?“

Das war nun allerdings leichter gefragt, als beantwortet, denn weder der Gefreite selbst noch der inzwischen herangekommene Lazarettgehilfe wußten eine befriedigende Auskunft zu geben; das Allgemeinbefinden ließ nichts zu wünschen übrig, nur die Beine versagten einfach den Dienst, sie waren „inkohärent“ geworden. So meinte wenigstens unser alter Stabsarzt mit seinem trockenen Humor, als er ohne abzusteigen, nach einem kurzen Blick auf den Maroden verordnete: „Auf den Wagen! Im Quartier ordentlich essen und schlafen, dann ist der Mann heute abend wieder auf dem Damm!“ Mit einem kurzen Wort der Aufklärung an mich ritt er weiter und auch ich suchte, vollständig beruhigt über den rätselhaften Vorfall, so rasch wie möglich meine Compagnie wieder einzuholen.

„So ’n Drückeberger!“ knurrte Schmidt, als wir auf unserem Platz angelangt und er wieder zu Atem gekommen war. „Hat’s doch durchgesetzt, daß er sich nachfahren lassen darf. Sieht aus wie’s blühende Leben und legt sich in den Graben! Wird’s jetzt wohl öfter probieren, wo’s ihm das erste Mal so gut geglückt ist. Können uns nur gleich ’nen Extrawagen für den Herrn Tilmanns zulegen.“

„I wo, Feldwebel,“ besänftigte ich. „Der hat bis heute abend längst ausgeschlafen.“

„Wie meinen der Herr Lieutenant?“ fragte der Gestrenge verständnislos.

„Ich meine, daß Sie recht hatten, – daß der Gefreite Tilmanns absolut keinen Wein vertragen kann, oder besser gesagt, daß in eine Pfälzer Stütz’ mehr Wein hineingeht, als der Gefreite Tilmanns zu vertragen vermag!“

Einen Augenblick sah mich Schmidt an, als sei er nicht sicher, ob ich im Ernste spräche, dann aber legte sich ein Ausdruck innigsten Begreifens über seine Züge und ohne mir in Worten eine Erwiderung zu geben, begann er leise den „Alten Dessauer“ vor sich hinzupfeifen. Unser ganzes Bataillon aber kam an diesem Tage in die vorzüglichsten Quartiere in Deidesheim und als am anderen Morgen der Feldwebel ausgeschlafen hatte – was ihm übrigens, ebenso wie manchem anderen von uns, recht not gethan, – da mochte er den gestrigen Zwischenfall doch in einem milderen Licht betrachten, denn ich hörte ihn dem Gefreiten zurufen: – „Na, Tilmanns, wieder in der Reih’? – Ja? – Schön! Bitte mir aber aus, daß sich Ihre Beine heute nicht wieder ’ne Insubordination vor versammeltem Kriegsvolk erlauben.“

(Schluß folgt.)

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