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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Chaos. Dann freilich ist’s wieder dunkel. Da erscheint der Teleskopmann und stellt sein Instrument auf. „Mensch, sind Sie wahnsinnig!“ ruft das Gigerl pathetisch, setzt aber doch das Eisbeil beiseite. Der Mann lächelt pfiffig. „In einer halben Stunde werden Sie durch mein Glas Gemsen sehen können.“ – „Unmöglich!“ – Aber der Mann versteht sich aufs Wetter.

Ein reizendes Schauspiel entfaltet sich. Wie ein loses Blatt flattert ein Stück Landschaft im Nebel, ein paar Häuser, Bäume, ein Stück See. Das Bild verschwindet, ebenso lose schwimmen andere vorbei, Stücke vom Rigi, Alpweiden, jetzt ein Dorf, jetzt Luzern. Halb sind die Bilder Wirklichkeit, halb sind sie Schemen, ein wunderliches Mosaik wie die ersten abgerissenen Gedanken, die durch eine Poetenseele laufen, wenn eine Novelle entsteht.

Wenn man die im Nebel gaukelnden flatternden Bänder zusammennähen würde, so gäben sie eine Welt. Jetzt flackert er auf, wird flockig, zerrinnt in der Luft, das Licht strömt herein, die Sonne leuchtet warm auf den Pilatusgipfel. – Und diejenigen, die so eilig wieder in den Zug gestiegen sind, sind die Genarrten. Wie werden sie zu dem nun sonnigen Berg emporstaunen!

„Sehen Sie die sechs Gemsen dort am Hochstollen,“ fragt jetzt der Mann mit dem Teleskop das Gigerl. Der schaut begierig durch das Instrument. „Großartig, hochinteressant, wie die Tiere auf das Grasband zwischen den Felsen gelangen können. Meine Herrschaften, da sehen Sie grasende Gemsen,“ ruft er begeistert. Alle, die müd’ und mürrisch im Hotel gesessen sind, haben sich jetzt auf dem Gipfel gesammelt, alle wollen einmal Gemsen sehen.

Auf dem Tomlishorn.

„Aber die Gemsen tragen ja Glöckchen am Hals,“ bemerkt ein junger Mann, „das sind wohl gar zahme Gemsen?“ „Ziegen sind es,“ ruft der dicke blonde Herr, „Sie Schwindler von Teleskopmann!“ Und der alte Blaustrumpf deklamiert: „Was sind Träume, was sind Illusionen?“ – Lächelnd erklärt der Teleskopmann, er habe das Instrument schon eingestellt, als des Nebels wegen die Tiere noch nicht ganz zu erkennen gewesen seien, und er hat dabei eine so leichte liebenswürdige Art, daß ihm niemand ganz böse sein kann. Er sucht mit dem Rohr an den Bergen. „So, meine Herrschaften, ich entschädige Sie, drei Bergsteigerpartien sind sichtbar – die eine Gruppe sehen Sie auf der Spitze des Wetterhorns – eine andere geht straff am Seil über das Mönchjoch – die dritte kommt vom Titlis.“ – Diesmal spricht er die Wahrheit; ein paar Engländer halten das Rohr belagert. „Splendid, splendid, indeed!“

Nun, wir können das Rohr entbehren. Vom Jura zum Gotthard, von der Ostschweiz bis in die Waadt liegen die Pergamente der Schönheit aufgerollt. Das Kleinod in dem Bild ist der Vierwaldstättersee mit seinen Farbentönen und Lichtreflexen, die von Seekammer zu Seekammer, von Uferstelle zu Uferstelle wechseln. Die Bucht von Luzern ist lichtgrün, weiterhin metallisch glänzend wie die Flügel einer Libelle, die Mitte des Sees schimmert reinblau, die Seekammer von Gersau und die von Brunnen ist dunkelgrün. Und die Dörfer, die Berge, die Wälder spiegeln sich in der Flut. Tief im Thal von Obwalden, fern im Hügelland gegen die blauen Linien des Jura hin, staunen wie träumende Augen kleine Seen zu uns herauf und Myriaden weißer Punkte bezeichnen die Heimstätten der Menschen.

Und im Süden des grünen Landes schwellen die Berge an, höher und höher bis zum Alpenbogen, der sich vom Säntis zum Montblanc zieht. Haupt an Haupt leuchtet das Heer von Gipfeln in Reinheit und Erhabenheit, schön wie am ersten Tag.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 508. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_508.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2024)