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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Fremdenblatt vom Vierwaldstättersee“, als wolle er die zwölfhundert Namen desselben auswendig lernen. Zuweilen wirft eines, wenn es sich unbemerkt glaubt, einen Blick nach dem andern. Gewiß, sie suchen den Frieden.

„Haben Sie gebeichtet?“

Ich starre die Dame an, die mich das fragt. Ich bin ja Protestant – und wäre ich Katholik, was fragt man mich auf dem Dampfboot nach der Beichte?

Da lacht die lebenslustige Fremde, irgend eine Gräfin Lewinsky oder Bilensky aus Krakau, die vor zwanzig Jahren hübsch gewesen sein mag. „Sie wollen doch auf den Pilatus? – Na, ich auch, ich bin verliebt in den sonderbaren Berg, aber ich fürchte mich. Da habe ich vorher gebeichtet und kommuniziert, im Gasthof ein rechtskräftiges Testament niedergelegt und meinen Freunden Abschiedsbriefe geschrieben, man kann nie wissen –“

Die Umstehenden, die ihre Aufmerksamkeit der auffallenden Fremden zugewendet haben, lächeln, und nun erzählt sie die Geschichte auch ihnen.

Das Dampfboot fährt. Alles blickt nach dem Pilatus. Wird die Wolke, in die sein Gipfel gehüllt ist, weggehen, bis wir ihn erreichen? Die Schiffsleute behaupten es; aber sagen sie nicht alles den Fremden zu Gefallen?

Das ist sicher, der Pilatus ist ein Brüter, ein Sonnenfeind. Rigi und Bürgenstock glänzen hell, nur er ist dunkel. Ich glaube, sein Schicksal ist dran schuld, seine Geschichte. Er hat gelitten wie ein Mensch, er wurde ein Sünder und dann ein Heiliger. In alten Zeiten hieß der Berg Frakmont und hoch zwischen den Felsen lag ein schöner, blauer See. Das war die Seele des Berges, die wie eine Kinderseele Sonne, Mond und Sterne suchte. Da kamen grobe Menschen und warfen Steine in den See, gerade wie sie manchmal Steine in eine Kinderseele werfen. Der Berg geriet wie ein ehrlicher Junge in Zorn, er warf Unwetter auf Unwetter in das Land der Menschen. Nun behaupteten die Leute, in seinen Felsen und Gründen wohnen böse Geister, ja der böseste der Bösen, der Kreuziger Pontius Pilatus. Die Luzerner zogen mit Weihrauchfässern, mit Kreuz und Fahnen empor, um ihn zu entzaubern, und als das nicht half, da nahmen sie ihm den ehrlichen Namen Frakmont und nannten ihn nach dem schlechten römischen Landpfleger, der den Herrn verurteilt hat; und seiner Nase, die nach einem gewaltigen Helden der Vorzeit Etzel hieß, gaben sie den Namen des grauen Tiers, auf welchem der Herr in Jerusalem einzog, als die Verurteilung ihm bevorstand. An den Weg, der auf den Berg führte, stellte die Stadt Luzern zwei Wächter, damit kein Mensch mehr zu jenem schönen, blauen See aufsteige, wo der Dämon wohnte, und zuletzt zerstörte man den See. Da fiel der Frakmont in ein tiefes Nachdenken wie ein armer mißhandelter Mensch, und als er nach vielen hundert Jahren wieder aufwachte, da merkte er, daß ihm etwas Großes, Schönes fehle, was er vorher besessen: der See, die Seele. Seither steht er da wie ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat, und grübelt, was wohl einst gewesen sein möge. Die Wolken, die seine Stirne umziehen, sind die Gedanken, mit denen er dunkel und tastend jenen See sucht, in dem er einst Sonne, Mond und Sterne flimmern sah. Selbst die Eisenbahn, die ihm über Rücken und Schultern krabbelt, rüttelt ihn nicht aus seinem Brüten auf.

Doch da fahren wir schon an Hergiswyl und seinem weißen Kirchlein vorüber. Das Dörfchen unter den wilden dunkeln Flühen des Pilatus gefällt mir. Oben in den Felsen die ewige Drohung, unten im Grün der Wiesen das kleine Glück des Tages!

Ein Kichern und Lachen geht über das Schiff. Ein paar mutwillige Mädchen machen sich mit einem Alpengigerl zu schaffen, der grüne großkarrierte Strümpfe, Kniehosen und Lodenrock trägt, um die Hüften ein Gletscherseil, um den Hut einen Gletscherschleier geschlungen hat und das schwere Eisbeil nicht aus der Hand läßt.

Die Mädchen lachen ihn aus, weil er mit der Eisenbahn auf den Pilatus fahren will.

„Treiben’s doch den Ulk nicht zu weit – ich geb’ mich mit Kleinigkeiten wie dem Pilatus da gar nicht ab oder nehm’ sie doch höchstens als Hors d’oeuvre vor dem Frühstück.“ Der Kraxler setzt umsonst die wichtigste Miene auf, die Mädchen machen sich lustig über seine Spatzenwaden.

„Alpnachstad“ – unser Gigerl atmet erleichtert auf und schießt in den bereitstehenden Zug der Pilatusbahn.

„Wissen Sie, wer das ist? – Der Bariton des Theaters in Klinghausen, ein närrischer Kerl, der mit seiner Großthuerei den Damen imponieren will.“

Wenn der kurze Zug der Pilatusbahn, der mit jedem Eingriff der Radzähne in die Lücken der Zahnstange erbebt, sich auf dem steilen Geleise in Bewegung setzt, so begreift man die polnische Gräfin, die vorher ihre Rechnung mit dem Himmel schloß – die Bahn ist ein außerordentlich keckes Stück technischer Leistung. In düsterm feierlichen Buchenwald steigen wir empor, durch die mattsilberweißen Stämme schimmert der See, da ein Stück, dort ein Stück, wie fallende Spiegelscherben. Alles ist in langsamem stetigen Fall, die Stämme und die grünen Kronen. Jetzt wiegt sich auf der Spiegelscherbe unten eine Nußschale – das nach Luzern zurückkehrende Dampfboot.

Wir sind über dem Wald, die Aussicht entfaltet sich, zwischen die Waldberge stellen sich Schneegipfel, die lebhafte Polin hat das Fürchten verlernt, sie kann nicht mehr still sitzen vor Vergnügen, nur das Alpengigerl zittert noch ein wenig.

„Wissen Sie, das hat mit meinen Bergbesteigungen nichts zu thun, das Fahren trägt die Schuld, es ist nur Nervosität, ich vertrage das Hinuntergleiten der Bäume nicht gut. Eine Jungfraubesteigung wird die Nerven schon wieder stärken. Ah – ah – ah –“ unterbricht er seine Rechtfertigung.

Hinter den Wettertannen der Aemsigenalp ist die blendend weiße Gruppe des Wetterhorns emporgestiegen, das wachsende Panorama hält alles in Atem, die junge Frau fällt dem jungen Gatten um den Hals: „George, wer wird schmollen in dieser Gotteswelt.“ – Nichts als Jubel. Aber seltsam. Während alle übrigen Gipfel wolkenfrei und sonnig sind, schwebt um den „Esel“ immer noch die Wolke, die wir schon von Luzern aus gesehen. Der Zug sticht durch die weißgrauen Felsenrippen der Eselwand, einen Augenblick noch trinkt das Auge die weite Welt – aber jetzt – – – –

Wir sind in der Wolke drin. Es ist finster geworden, der feuchte Nebel zieht qualmend durch die Wagen, alles greift nach den Plaids und Ueberziehern – der dicke blonde Herr hat einen Hustenanfall, nachher wettert er: „Da wär’s ja schon schöner in Hinterpommern. Na, was sagt man zu solch’ einem Reinfall.“

„Sehen Sie etwas?“ fragt die Polin verzagt.

„Keine Telephonstange!“

Der Zug hält, irgend eine Stimme ruft „Pilatuskulm“, die Reisenden tappen ins Freie und tasten sich wie wandernde Schatten nach dem Gasthof. Ein Glück, daß eben Table d’hote ist, daß man sich zur dampfenden Suppe setzen kann und daß der Saal behaglich geheizt ist. Gäste, die schon gestern abend oder am frühen Morgen gekommen sind, freuen sich, daß es eine Unterbrechung giebt in der trostlosen Langenweile, zu der sie hier oben verdammt sind. Sie mustern die Neuankommenden mit kritischem Blick. Seit acht Uhr ist die Wolke da und wankt nicht. Wie ein lähmender Schrecken wirkt der kalte Nebel, das Table d’hote-Gespräch bleibt matt, vereinzelte Anläufe, sich mit Humor über die fatale Lage hinwegzusetzen, werden verdrossen aufgenommen – nur einige Engländer behalten die gleichgültigen Mienen.

Eine Stunde sitzen wir schon. Da kommt der Schaffner der Bahn. „In fünf Minuten geht der Zug nach Stansstad.“ – Das Signal wirkt wunderbar. Die Hälfte der Gäste stürzt nach ihren Siebensachen, wickelt sich in Mäntel und Plaids und fort geht’s in wilder Flucht nach dem Zug. Einer steckt den andern an – im Augenblick weiß man nicht recht, ob das die Klugen sind, die ohne den Pilatus gesehen zu haben, wieder abfahren, oder diejenigen, die auf gut Glück bleiben.

Wir zählen zu diesen. Aus lauter Verzweiflung steigen wir die hundert Schritte zum Plateau des „Esels“ empor. Da oben steht einsam das Gigerl, fröstelnd auf sein Eisbeil gestützt. „Sagen Sie ’mal, das ist schändlich. Warum macht die Eisenbahngesellschaft nicht rechtzeitig darauf aufmerksam, daß man nichts sehen wird? Warum nimmt sie uns das Geld ab? Das ist Betrug. In die Zeitungen soll man’s rücken.“

Der Eindruck ist wirklich trostlos. Nebel, dichter Nebel, und sonst nichts, wie zu jener Zeit, da die Erde noch nicht erschaffen war. Und so bleibt es. Doch nein! Dann und wann glitzert’s im Grau, wie wenn man scherzeshalber die Jalousien eines dunklen Zimmers ein wenig auf- und wieder zumacht. Ein unbestimmtes schwaches Leuchten geht oft minutenlang durch das

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