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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

so geht unter Entwicklung erstickender Dämpfe eine chemische Veränderung vor sich, und aus der harmlosen Cellulose wird Nitrocellulose, ein ungemein gefährlicher Explosionsstoff, welcher schon durch Druck oder Schlagen zur Explosion gebracht werden kann. Derselbe ist in weiteren Kreisen unter dem Namen Schießbaumwolle bekannt, da früher zu seiner Herstellung ausschließlich Baumwolle verwendet wurde. Die Nitrocellulose ergiebt nach entsprechender Weiterverarbeitung das vielbesprochene rauchlose Pulver, das also aus demselben Rohstoff erzeugt wird wie das Papier. Es ist auch möglich, aus reinem Cellulosepapier Nitrocellulose und daraus wieder rauchloses Pulver zu machen.

Die Nitrocellulose dient aber auch weniger blutdürstigen, sondern rein gewerblichen Zwecken. Uebergießt man sie, nachdem sie gut getrocknet ist, mit einer Lösung von Kampfer in Aether, so entsteht eine gallertartige Masse, die sich durch die Verflüchtigung des Aethers allmählich verdickt. Wird diese Masse unter starkem Druck solange gewalzt, bis sie fest geworden ist, und hierauf nochmals einem ungeheuren Drucke in einer hydraulischen Presse ausgesetzt, so nimmt sie eine hornartige, durchsichtige Beschaffenheit an und heißt dann „Celluloid“.

Eisenbahnrad mit papierenem Radstern.

Das Celluloid ist ein geschätzter und vielverwendeter Stoff unserer heutigen Industrie. Im kalten Zustande ist es ungemein hart, bei einer Temperatur von 125° C. wird es dagegen weich und läßt sich in jede beliebige Form pressen. In diesem Zustande kann es auch mit Farbstoffen vermengt werden, und man versteht es, ihm eine täuschende Elfenbeinfarbe zu geben sowie durch Bemalen die Farben des Horns und Schildpatts nachzuahmen. Viele der billigen elfenbeinähnlichen Schmucksachen, die heute im Handel sind, bestehen aus Celluloid, das auch in der Härte dem Elfenbein nahe kommt. Auch Billardbälle, von den Spielern meist „Papierbälle“ genannt, werden aus Celluloid hergestellt, desgleichen Stockgriffe, Kämme und viele andere Dinge. Erwähnenswert ist noch die sogenannte „Gummiwäsche“, die gleichfalls aus Celluloid besteht und deren Kampfergeruch von dem oben beschriebenen Lösungsmittel herstammt.

Leider hat das Celluloid von der Nitrocellulose die schlimme Eigenschaft leichter Brennbarkeit beibehalten, zwar in abgeschwächter, aber immer noch bedenklicher Form. Durch Schlag und Stoß entzündet sich das Celluloid nicht, über eine helle Flamme gehalten brennt es jedoch sofort und unter bedeutender Kraftentwicklung. Schon mancher Billardball ist zum Entsetzen der Spieler durch Gasflammen oder brennende Streichhölzer zu Grunde gegangen. Auch die sogenannte Gummiwäsche ist ungemein feuergefährlich, und obwohl die Fabrikanten bestrebt sind, ihr diese bedenkliche Eigenschaft nach Möglichkeit zu entziehen, zeigt ein Versuch sofort, daß dies noch nicht gelungen ist. Die Celluloidkragen und -manschetten brennen sehr leicht und schnell. Wer die sogenannte Gummiwäsche trägt, sollte daher die größte Vorsicht walten lassen und brennende Streichhölzer von derselben fernhalten. Denn sie entstammt einem der gefährlichsten Explosionsstoffe, und obgleich dessen unheilvolle Triebe in ihr stark gebändigt sind, kann sie ihre Abstammung doch nicht vollständig verleugnen.


Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (Schluß.)


Ditscha blättert weiter in dem Tagebuch. Jetzt kommen die Reisejahre. Achim war kränkelnd, sie sind im Süden. Kurze Notizen – Palermo, Weihnacht 1886: Jochen und ich haben Heimweh nach Beetzen, nach Onkels stiller Stube, nach Hannes „braunem Kuchen“, nach dem verschneiten Park der Heimat – aber schön ist’s hier, unsagbar schön!

Rom – Ostern; Joachim und ich zur Messe in der Sixtinischen Kapelle.

Florenz: Joachim ist ganz begeistert.

Nizza: Joachim hat einen Freund vom Gymnasium hier getroffen, den jungen Grafen Mangelsdorf. – Mein Gott, wenn ich das an Joachim erleben müßte! Achim kam und holte sämtliches Geld, das wir bei uns hatten; es galt, die Hotelrechnung des Grafen zu bezahlen und ihm das Reisegeld zu verschaffen; er hatte alles verspielt. Onkel Jochen würde uns aber nie verziehen haben, wenn wir mit dem, was er uns für diese Reise gab, nicht ausgereicht hätten. So leistete ich denn von meinem Vermögen Ersatz; es war keine unbedeutende Summe. Joachim und ich sind ja aber eins, und er sagt sehr richtig, wenn man einen Menschen vor Verzweiflung bewahren kann, so soll man ein paar tausend Thaler nicht ansehen. Er ist wirklich eine nobel angelegte Natur, und ich habe ihm gesagt, er könne über alles verfügen, was ich besitze.

Beetzen, Mai 1887: Heute ist Achim großjährig geworden. Gott segne ihn!

Und nun heute, wo sie ihn von Dresden zurückerwartet, schreibt sie mit zitternden Händen: Mai 1889. Achim hat den ersten Schmerz in seinem Leben durchzukämpfen – könnt’ ich ihm den abnehmen, könnt’ ich ihn vor allem Schweren bewahren! Wär’ er nur erst hier, der arme arme Jung’! – Ich habe Rothe wiedergesehen. Ich bin viel ruhiger darüber, als ich es für möglich gehalten. – Mein ganzes Herz ist bei Achim, der jetzt leidet, wie ich einst gelitten. Wie lange schwere Jahre müssen vergehen, ehe man ruhiger wird!

Sie springt auf und fragt, ob schon angespannt sei. Viel zu früh schickt sie den Wagen nach Bützow zum Bahnhof. Gegen ein Uhr duldet es sie nicht mehr im Hause, sie geht ihm auf der Chaussee entgegen – der Wagen kommt leer zurück!

Eine unheimliche unerklärliche Angst hat sie gepackt. Wenn er dennoch – wenn die Leidenschaft Macht über die Vernunft gewönne – wenn diese Liebe stärker wäre als die zu ihr, zu seinem Onkel, zu der stolzen Vergangenheit seines Hauses! Mein Gott, wer weiß denn, weshalb er zurückgeblieben! Vielleicht hat sie verlangt, er solle noch einmal ihr die Hand geben, und an dieser Hand hat sie ihn festgehalten, hat ihn bezaubert mit ihrer ganzen berückenden Schönheit!

Warum war sie auch von ihm gegangen – warum, warum nicht bei ihm geblieben!

Sie kann bei Tische keinen Bissen essen, ruhelos wandert sie umher durch Haus und Garten. Die schreckliche Idee, daß sie das einzige verlieren soll, das sie noch besitzt auf Erden, macht sie körperlich krank. Ach, was sind nicht schon für verrückte Geschichten passiert aus Liebe! Onkel überlebt das nicht, sie auch nicht, und das wäre das beste für sie, denn eine Heimat hat sie dann auch nicht mehr. – Sie hätte ihm gleich alles erzählen sollen, vielleicht wär’ er ihr dann gefolgt. – Aber die Sprache hätte ihr versagt, wenn sie ihm, der sie wie eine Gottheit verehrt, die Geschichte ihrer Thorheit hätte beichten müssen.

Wenn Sie ihn aber damit retten könnte, würde sie es doch thun, würde sie es ihm schreiben.

Gegen fünf Uhr kommt eine Depesche an Ditscha. Sie wird überall gesucht, endlich findet sie eins der Mädchen in dem Zimmer der verstorbenen Tante Klementine, wo sie am Fenster steht und die Chaussee entlang späht mit dem Feldstecher.

„Eine Depesche, gnä’ Fröln!“

„Ach, Gott sei Dank!“ sagt sie und reißt das Papier auf. Das Mädchen ist im Begriff die Treppe hinunterzugehen, da stürzt das gnädige Fräulein hinter ihr her. „Den Wagen!“ ruft sie, „rasch den Wagen!“ Sie ist wie irr vor Angst, seit sie gelesen:

„Joachim schwer erkrankt  Cilly.“

Der alte Herr darf nichts wissen, natürlich nicht; Ditscha muß irgend einen Vorwand für ihre Reise ersinnen. Er schläft jetzt noch – Hanne soll ihm also, wenn er erwacht, sagen, daß Ditscha noch einmal hat nach Dresden reisen müssen, weil da eine Verlobung im Werke sei. „Hörst Du, Hanne? Und sollte irgend etwas Schreckliches passieren, so –“ sie stockt – „so holt Herrn Rothe.“

Ditscha fährt ab in einem Zustand halber Besinnungslosigkeit. In Dresden angelangt – es ist ein Uhr nachts, aber sie hat an Cilly depeschiert –, findet sie Cillys Mann auf dem Bahnhof. Er ist sehr höflich, sehr ernst, etwas hölzern und sieht vornehm aus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_494.jpg&oldid=- (Version vom 19.7.2023)