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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Mein lieber Jung’, sage mir nur jetzt keine Schmeicheleien, rede nur von der Mutter – die Mutter also gefällt Dir nicht?“

„Ganz und gar nicht! Sie ist die einzige in der Familie, die den Parvenu nicht verleugnen kann; sie spricht ein unmögliches Englisch und ein noch unmöglicheres Deutsch, sie kleidet sich wie eine Hökerfrau am ersten Pfingstfeiertage, sie riecht auf eine Meile nach Patchouli und trägt Brillantbroschen auf der offnen Straße von immenser Größe, mit einem Wort – die Mutter ist fürchterlich.“

„Und trotzdem?“

„Ich heirate ja die Mutter nicht, Ditscha,“ wendet er, sich zu einem Scherz zwingend, ein.

„Alles in allem, mein Herz – es scheint mir keine Partie für Dich zu sein,“ sagt Ditscha ruhig.

„Sieh Ellen erst,“ antwortet er.

„Ach, mein Junge, ich weiß ja, daß ich Dich nicht hindern kann, aber Du würdest es nie – – eine einzige gewöhnliche Seite, die kleinste ordinäre Angewohnheit bei Deiner Frau – Du würdest es nicht ertragen können.“

„Ellen ist eine vollendete Dame, Ditscha!“

„Ich glaube nicht daran,“ beharrt sie, „die Luft der Kinderstube muß sehr rein sein, Achim, um eine vollendete Dame zu bilden. In Patchoulidüften gedeihen sie nicht.“

„Aber, wir könnten sie ja noch erziehen,“ sagt er leise, „Du und ich, Ditscha!“ Er faßt ihre Hand und sieht in ihre Augen bittend, ach so bittend – sie hat diesem Blick nie widerstehen können.

„Das ist wahr, mein Jung’, und wenn sie Dich wahrhaft liebt, wird sie es auch lernen.“

„Ditscha,“ sagt er jubelnd.

Sie runzelt die Stirn. „Achim, ich weiß ja nicht, ob sie Dich so lieben kann, wie Du geliebt sein sollst.“

„Lerne sie kennen, Ditscha!“

„Ja natürlich, gieb mir nur Gelegenheit.“

„Würdest Du mir zuliebe mit in die Oper gehen, trotz Deiner Reisemüdigkeit?“

„Könnte ich sie dort sehen?“

„Ja, ich habe für Dich einen Platz in der Loge neben ihnen, ich selbst bin im Parkett. Du kannst Dir Ellen aus nächster Nähe betrachten.“

„Aber meine Toilette! Doch ja, ich kann mich umziehen, ich habe ein schwarzes seidenes Kleid mit. – Es ist eilig, wie? Ach bitte, bestelle mir rasch eine Tasse Thee; in zehn Minuten bin ich fertig.“

Sie zieht sich im Nebenzimmer um mit fliegender Hast und tritt pünklich, wie sie versprochen, nach zehn Minuten wieder ein, in einer schwarzen Moirérobe, die weiter keinen Vorzug hat als die Güte des Stoffes und die Vorzüglichkeit des Sitzens.

Nach zwanzig Minuten befindet sie sich in einer Loge des ersten Ranges und mustert das Publikum. Da es eine Wagner-Oper ist, sind alle Plätze des großen Hauses besetzt, nur im ersten Rang sind noch Lücken, auch in der Loge, neben welcher Ditscha ihren Sitz hat. Sie sucht im Parkett nach Achim und tauscht einen Blick mit ihm aus. Ein unsägliches Mitleid fühlt sie mit ihm, dem armen thörichten Jungen, der sein Herz verloren hat – Gott weiß an wen!

In diesem Augenblick öffnet sich die Logenthür nebenan, das Rauschen seidener Kleider, eine Wolke von aufdringlichem Patchouliduft, und neben Ditscha, nur getrennt durch die mit Sammet bezogene Logenabteilung, läßt sich schwer atmend ein menschliches Wesen, eine Frau, fallen, stark bis zur Grenze der Möglichkeit eingeschnürt, hochroten Gesichtes, mit hochblond gefärbten, in tausend Löckchen gebrannten Tizianhaaren, funkelnd von Brillanten und in terrakottafarbenen Damast gezwängt.

„Barmherziger!“ denkt Ditscha entsetzt, „soll das die Mutter sein?“ Dann wendet sie langsam das Haupt.

Hinter dem Sessel dieser Dame steht eine Mädchengestalt und betrachtet das Publikum. Ditschas Herz zuckt zusammen, jetzt vermag sie die kopflose Leidenschaft ihres Lieblings zu begreifen, fühlt sie, daß sie ihn verloren hat. Wie eine Marmorstatue steht diese wunderbar schlanke, in schneeweiße Seide gehüllte Mädchengestalt da; ein wahrhaft klassisch schönes Köpfchen sitzt auf dem anmutigen Hals, das dunkle Haar ist im einfachen Knoten am Hinterhaupt zusammengefaßt, über der blendend weißen Stirn spielen kurze Löckchen, und ein so süßes Gesicht, ein Paar so schöner trauriger schwarzer Angen – eine Schönheit im vornehmsten Stil. Sie sieht in das Parkett hinunter, und nun leuchten die Augen auf und langsam hebt sie einen Strauß Maiglöckchen zum Mund, einem ernsten kleinen Mund, und berührt ihn mit den Lippen.

Ditscha wendet zögernd ihren Blick ab und blickt zu Achim hinüber, der aber hat keine Antwort für sie, seine Augen hängen wie trunken an dem schönen Geschöpf.

Sie ist’s also, Ellen Perth!

Nun gleitet sie die Stufen hinab und nimmt Platz neben ihrer Mutter mit dem Anstand einer jungen Königin. Zum Glück bemerkt sie Ditschas Blicke nicht. Ach, und Ditscha ist es, als müsse sie hinausgehen und Achim am Arme packen und ihm sagen: „Komm’ – komm’ nach Beetzen, mein armer Junge, komm’ – lerne vergessen!“

Nun plötzlich Stille. Die Ouvertüre beginnt, alles lauscht, nur die dicke Nachbarin Ditschas kann sich noch nicht beruhigen, sie fächelt sich Kühlung zu mit einem Straußfederfächer von riesiger Größe und fordert schließlich den hinter ihr sitzenden Herrn mit heiserer Flüsterstimme auf, ihr den Umhang zu geben, weil sie so „transportiert“ habe.

Ditscha möchte lachen, wenn ihr die Thränen nicht so nahe säßen. Sie sieht und hört nichts von dem, was auf der Bühne vorgeht, sie hat nur Augen für ihre Nachbarn.

Als der Vorhang gefallen ist, sagt Madame mit ihrer fetten Stimme: „Hast Du Kronen gesehen, Ellen?“

Die junge Dame nickt.

„Dann wird er wohl in der großen Pause heraufkommen? Ihr trefft Euch jedenfalls am Büffett? Ich bleibe sitzen derweil, ich geh’ nicht gern spazieren – grüß’ ihn von mir!“ Dies alles in einem furchtbaren Englisch, von einem Lachen begleitet, das den ganzen ungeheuren Körper erschüttert.

Miß Ellen thut, als höre sie nichts; ihre Augen und Joachims Augen lassen nicht voneinander. – Jetzt biegt sich Herr Perth etwas vor und reicht seiner Gattin einen Brief – Ditscha hat Gelegenheit, ihn zu sehen. Ein sehr hagerer Herr mit scharfen Gesichtszügen, gefärbtem Schnurrbart und ziemlichem Kahlkopf; sehr elegant gekleidet, ganz vornehm alles in allem. Ditscha hat so ähnliche Erscheinungen gesehen in Monte Carlo und Baden-Baden.

„Den Brief,“ sagt er, ebenfalls englisch, „gab mir der Postbote, als ich noch einmal hinaufging, um Dein Opernglas zu holen.“

„Wo denn her?“ fragt sie zurück.

„Du weißt ja, aus Bützow -“

Ditscha glaubt, sie habe sich verhört, und schilt sich selber; wie sollen diese Amerikaner Beziehung haben zu dem kleinen weltfernen Bützow?

„Kannst Du es lesen?“ erkundigt sich der Herr, ihr ein Schreiben gebend.

„Nein,“ antwortet sie, „ich habe meine Lorgnette vergessen, ist’s guter Bescheid?“

„Ganz gut! Der Alte auf Beetzen ist nur noch eine wandelnde Leiche,“ spricht er, sich näher zu ihr beugend.

„Süh! Süh!“ nickt die Dame in unverfälschtem Bützower Dialekt.

„Und das Regiment führt die – –“ setzt er flüsternd hinzu.

Ditscha versteht nur das erstere.

„Mit der werd’ ich schon fertig,“ sagt Madame und lehnt sich bequem zurück.

In Ditschas Kopf wirbelt es, sie möchte ihn am liebsten festhalten. Um Gotteswillen – träumt sie denn? – Sie starrt mit nahezu beleidigender Neugier die hochblonde geschminkte Person neben sich an, aber das Gesicht ist dem ihren abgewandt.

Der zweite Akt beginnt. Ditscha erscheint es kaum möglich, die Musik zu ertragen, das Parfüm weiter einzuatmen; ein Angstgefühl, die Ahnung eines Unheils ist über sie gekommen, daß es ihrer ganzen seelischen Kraft bedarf, um auszuharren. Endlich die Pause. Ditscha bleibt sitzen; das schöne Mädchen nebenan erhebt sich und verläßt die Loge, begleitet von dem Herrn, den sie Papa nennt. Die dicke Dame bleibt ebenfalls im Zuschauerraum und mustert die Logen, das Opernglas vor den Augen.

Ditscha verharrt mit zusammengepreßten Lippen und kreideweißem Gesichte, ihre Augen unverwandt auf die Person geheftet. Endlich läßt diese das Opernglas sinken und sieht mit gleichgültiger Miene zu ihr hinüber. Das verschwommene Gesicht wird plötzlich

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