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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Ja, antwortete sie. Er läuft mit ihr.

Volkmar lachte auf. Er läuft mit ihr, sprach er ihr nach. Du auch?

Toni lächelte. Helene ist ja ebenso schwie wie ich, was Thea betrifft!

Schwie? fragte er, als habe er nicht recht gehört.

Na ja! wir nennen das „schwie“. Wenn einer so ’ne gewisse Schwärmerei hat, weißt Du; „schwärmerisch“ klingt aber gar so majestätisch. Da sagen wir einfach: „schwie!“

Schwie, schwieer, am schwiesten, sagte Helene mit dem feinen Mündchen. Dann lachte sie ein wenig.

Kinder, es wird Zeit, daß ihr ein neues deutsches Wörterbuch herausgebt! – Aber seit wann befindet ihr euch denn in diesem Zustand?

Wegen Thea? fragte Toni, während sie den Oheim auf ihren Schlittschuhen umkreiste; Helene that es ihr nach.

Nun ja!

O! seit wir sie haben spielen sehen; nur wird’s immer schwieer. Zuerst als „Kind des Glücks“; da war sie süß; weißt Du noch, Helene?

Helene nickte, ihre grauen Augen gingen in die Höhe. Und dann, sagte sie, in dem großen historischen Trauerspiel, mit den Pagen am Anfang –

O Gott, Helene, Du schwefelst! Erst kam doch die „Grille“ –

Ja, ja, erst kam die „Grille“; aber dann das historische mit den hübschen, gähnenden Pagen; Toni, weißt Du noch?

Freilich weiß ich noch, erwiderte Toni, die wieder den Onkel umkreiste. Aber am himmlischsten war sie doch – – weißt Du noch, worin?

O Gott! rief Helene, die ihr wieder nachlief. In dem Verkleidungsstück. Bald als Mädchen, bald als Knabe, bald als junger Mann –

Als junger Mann mocht’ ich sie nicht sehen! fiel ihr Toni ins Wort. So in modernen Hosen – das sollte sie gar nicht thun – das ist gar nicht himmlisch. Und eigentlich ein dummes Stück; nicht? – Aber zuletzt als erkannte Prinzessin – o Gott, o Gott!

Ja, seufzte Helene. Zum Niederknieen. Ueber alle Begriffe; nicht?

Toni nickte; Helene dann auch. Sie sahen sich in die Augen, schüttelten den Kopf; dann liefen sie eine Strecke fort, als ließ’ es ihnen keine Ruhe, als müßten die überfüllten Herzen etwas zu schaffen haben. Volkmar sah ihnen nach, mit den schalkhaften Augen und den mitfühlenden Lippen lächelnd. Besser laufen, dachte er, müssen sie noch lernen; Begeisterung haben sie schon genug! – Mit einem Bogenversuch, der beiden noch nicht glückte, kamen sie dann zurück. Die jungen Wangen glühten allerliebst; von der Kälte, schien es, fühlten sie nichts, nur von der Sonne.

Also Thea Schüler! sagte Volkmar, als die beiden Backfische vor ihm Front machten, ihre Stahlschienen auf dem Eise drehend. Also so einen Stern vom Himmel haben wir in der Stadt, und ich kenn’ ihn nicht –

Weil Du nicht ins Theater gehst! rief Toni; ihre sonst so zärtlichen Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an. Das begreif’ ich auch gar nicht, Onkel. Das begreift auch niemand. Und alle, die Thea spielen sehen, sind doch so entzückt –

Warum gehen Sie eigentlich nicht ins Theater? fragte Helene mit ihrem sanften, klugen, neugierigen Lächeln.

Und Du lies’st doch zu Hause so viele Theaterstücke, setzte Toni hinzu. Und lies’st mit Deiner Donnerstimme daraus vor –

Und Sie sind Professor! bemerkte Helene.

Und Du bist ein Dichter!

Der Dichter und Professor verneigte sich vor den beiden reizenden Geschöpfchen und lüftete seinen Hut. Vielleicht geh’ ich ja in mich, antwortete er, wenn man mir so zuredet. Ich bemühe mich ja noch immer, meinen Lebenswandel zu verbessern. Aber eure Leidenschaft für Thea – bleibt die so genügsam? Ich meine, habt ihr ihr noch keine Blumen geschickt, keine Liebesbriefe geschrieben? Seid ihr ihr noch nicht auf die Bude gerückt?

Toni sah Helene an; sie erschraken offenbar beide über den furchtbar verwegenen Gedanken, ihr „auf die Bude zu rücken“. Nein, Onkel, sagte sie dann, sich fassend, auf die Bude gerückt sind wir ihr noch nicht. Einen Lorbeerkranz wollten wir ihr werfen; da hat Mutting uns ausgelacht. Aber wir sehn sie oft; wir laufen ihr ja nach, wo sie geht und steht. Zum Beispiel, wenn sie aus dem Theater von den Proben kommt; oder wenn sie spazieren geht; neulich fuhr sie mit Herrn von Fellenberg im Schlitten ... Wir finden sie überall!

Und ich nirgends! sagte Volkmar, scheinbar sehr verwundert. Ich hab’ sie noch nicht gesehn!

Weil Du immer am Hafen herumspazierst; oder weit draußen in den Wäldern. Da kommt die süße Thea nicht hin; natürlich. Die geht in die Anlagen – oder auf dem „Bummel“ –

Wo die Backfische und die jungen Herren sie bewundern!

Toni lächelte etwas bitter: Das hast Du wohl von den alten Damen, Onkel; die sagen ja alle: sie ist kokett! – Ach, die alten Ueze. Das ist doch ein Unsinn; nicht wahr, Helene? So ein himmlisches, poetisches, göttliches Geschöpf!

Zum Niederknieen! setzte Helene hinzu; sie lief dann eine Strecke, weil sie nun doch zu frösteln begann. Toni lief ihr nach; sie kamen aber sogleich zurück.

Also nicht kokett; das freut mich! erwiderte Volkmar ruhig. Man sagt ja sonst allerlei von der jungen Dame –

Ach, ich weiß, was Du meinst, rief Toni mit ihrem altklügsten Eifer aus; Du meinst Herrn von Fellenberg!

Mit dem sie im Schlitten –

Ja, und sonst. Das sehen wir ja alles, Onkel. Darüber lachen wir! Der ist in sie verliebt, natürlich; das sind wir ja auch. Und sie ist nett zu ihm; aber sie spielt mit ihm. Wie mit einem Hündchen; nicht wahr, Helene? Das sind Huldigungen. So sind sie beim Theater. Das wissen wir ja alles, Onkel. Es huldigen ihr ja auch noch andere

Alle unsere „Gigerln“ –

Die Elegantesten, verbesserte Toni; die am besten tanzen – und so. Ach, laß sie nur, Onkel! Alle vergöttern sie; aber Thea, die schwebt darüber wie – – Die alten Ueze verstehn das nicht. Ach, sie ist so himmlisch. Heute abend spielt sie wieder; sogar ihr Benefiz!

Ah?

Ja; „Die Geschwister“ von Goethe – und dann noch zwei Stücke.

Helene, die wieder im Kreise lief, seufzte laut. Ach, wir gingen so gerne hin! Wir gingen so gerne hin!

Aber Mutting will nicht, sagte Toni kleinlaut. Helenens Mutting auch nicht. Wir gehen viel zu oft ins Theater, sagen beide Muttingse und wir werden noch ganz verrückt!

So sagen sie, setzte Helena hinzu, mit den Achseln zuckend.

Toni schlug mit ihrem kleinen braunen Muff in die Luft: Ach, man hat es schwer auf der Welt!

In diesem Augenblick fuhr auf der Querbahn, auf der sich eine Zeit lang wenig geregt hatte, eine ganze Menschenwolke auf einmal in mächtigem Schwung heran. Vier Damen und vier Herren – zwei davon Offiziere – liefen in kurzen, raschen Bogen miteinander; vier vorauf, vier dahinter, alle acht aber mit den Händen aneinander hängend. Sie waren so fest im Takt, daß sie fast wie ein einziger wunderlicher Körper erschienen, der sich auf vielen Beinen bewegte; nur eine der jungen Damen schien von den andern mehr mitgerissen zu werden, sie hielt sich aber tapfer. Alle waren hübsch. Schau, schau! sagte Volkmar zufrieden. Das konnte man hier früher nicht; und so feine Mädels. Unser Städtchen macht sich!

Onkel! rief Toni ais. Ein „Städtchen“! Fünfzigtausend Menschen!

Ganz so viel doch noch nicht. Aber jedenfalls verschönert sich unsere Jugend. Ihr Backfische, nehmt euch zusammen: laßt den Wagen nicht rückwärts fahren, thut auch eure Pflicht!

Toni, die Schlagfertige, konnte jetzt nicht antworten, sie stieß ein unwillkürliches, aufgeregtes „Ha!“ aus. Ein einzelnes Paar kam auf der Querbahn heran, ein auffallendes: eine schlanke, schöne Jünglingsgestalt, trotz der Kälte im einfachen Rock, und eine junge Dame im Pelz; sie lief an seiner Hand, langsam in großen Bogen, aber noch unsicher und ungleich. Es war Volkmars Rudolf; offenbar mit Thea. Seine Augen ruhten auf ihr; sie lächelte ihn flüchtig an und bewegte die Lippen, dann achtete sie wieder, etwas ängstlich, auf ihren Bogenlauf. Volkmar hätte sie wohl erkannt, auch wenn er sie nicht mit seinem Primaner gesehen hätte: auf ihrer linken Wange bemerkte er den „Feuerfleck“, von dem man ihm erzählt, ein fast rundes Stück geröteter, verbrannter Haut. Es entstellte sie eigentlich nicht; es gab dem auffallenden, lustigen,

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