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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Ich glaub’ wahrhaftig, er ist noch in den Pferdestall gegangen,“ murmelt Friedrich, „und in ‚die dummen Hausschuhe‘ – oder er fährt gar nach Beetzen bei die Braut!“ Und kopfschüttelnd nimmt er die verschmähten Kartoffeln, um sie in der Küche warm zu stellen. – – –

Durch die Gänge des Parkes wandert ein Mann; auch da meint er zu ersticken. Und sein wilder Schmerz treibt ihn hinaus auf die Landstraße, der Schmerz hat ihn gepackt und rüttelt ihn wie nie in seinem Leben, selbst nicht damals, als sein Vater starb.

Das also ist Sophie von Kronen, das Mädchen, das ihm erschien wie ein überirdisches Geschöpf, reiner denn der Schnee, der vom Himmel flockt? Das Mädchen, vor dem er die Kniee gebeugt, um ihr zu danken, daß sie herabgestiegen aus ihrer Höhe, ihm zu gehören. Sie, die so schüchtern ist in ihren Liebesbeweisen, die erglühend die Wimper senkt vor jedem Liebeswort – – die war schon einmal auf dem Punkt gewesen, Ehre und Sitte zu vergessen, mit einem Manne – –

Herr Gott, habe Erbarmen – es kann ja nicht wahr sein! Sie ist krank, sie hat in Fieberdelirien jenen Brief geschrieben! – – Aber nein, nein! Es ist eine Stunde über sie gekommen, wo sie die Scham gepackt ob ihrer Lügen! Denn eine Lüge war ihr ganzes Brautsein mit ihm! Sie hat Angst vor einer Entdeckung! Der Alte hätt’s ihm sagen müssen –.

Er lacht heiser auf. Darum, darum das bereitwillige „Ja!“ des stolzen Barons! Er war gut genug, gut genug, um das verirrte geduldete Mitglied der hochachtbaren Familie unterzubringen! – Er bleibt auf der einsamen finstern Chaussee stehen im Schnee der Winternacht und schüttelt sich vor Ekel.

Ach Gott, wohin will er denn eigentlich? Nach Beetzen? Etwa, um ihr den Ring vor die Füße zu werfen? Thorheit! Er mag ihren Schlummer nicht stören. Sie träumt wahrscheinlich, er kommt morgen, um zu sagen: Ich glaube an Dich, was geht mich Deine Vergangenheit an! Ich kann von Dir nicht lassen, kann ohne Dich nicht leben!

„Nie! Nie! Nie!“ Er schreit es fast. Die kleine Teckelhündin, die ihrem Herrn gefolgt ist, frierend, mit eingezogener Rute, schmiegt sich winselnd an ihn, als wollte sie sagen: Was ist dir denn? Du machst mich zu fürchten, Herr!

Er geht weiter, weiter bis vor das verschlossene Thor des Beetzener Parkes. Dort steht er und klammert sich an das schmiedeeiserne Gerank der Thür und starrt zu dem Hause hinüber, in dem sie wohnt, und plötzlich rüttelt er mit beiden Fäusten in ohnmächtiger Raserei an dem massiven Gitterwerk und dann neigt er die Stirn gegen das kalte Eisen und fängt bitterlich an zu weinen.

Es sieht keine Seele, nur das Tierchen wimmert neben ihm im Schnee und die Sterne blitzen klar und kalt von droben. Er weint um sein zertrümmertes Ideal. – – –

Ditscha wartet am andern Tage und wartet – kein Brief, keine Antwort!

Joachim von Kronen fällt es auf, daß der Bräutigam nicht kommt. „Ditscha, der Jung’ wird doch nicht krank sein?“

Sie sagt, sie wisse es nicht.

Der Tag geht vorüber, auch der folgende beginnt, da erhält Joachim einen Brief. Mit fester klarer Handschrift steht da, daß Schreiber dieses genötigt sei, ganz plötzlich wieder zu verreisen, die Dauer seiner Abwesenheit aber nicht bestimmen könne. An Ditscha kein Wort. –

Sie weiß genug! Sie hat auch nicht zu hoffen gewagt, daß er ihr verzeihe. Aber trotzdem überkommt sie erst jetzt ein so hoffnungsloses Leid, daß sie kaum noch die Energie besitzt, sich in ihre Stube zu schleppen, und dort, vor dem Bette, bricht sie zusammen.

Hanne, die sie nach Stunden findet, trägt sie auf, ihren Onkel zu benachrichtigen, daß sie erkrankt sei. Jegliches Fragen wehrt sie ab. „Bekümmere Dich nicht darum, Hanne, lasse niemand zu mir, zieh’ den Schlüssel ab,“ bittet sie, „ich kann nicht sprechen!“

Ditschas Welt ist zum zweitenmal zertrümmert, wuchtiger, vollständiger noch als vor sechs Jahren.

Arme Ditscha!




Tagelang liegt sie in ihrem Zimmer, völlig apathisch. Hanne pflegt sie, soweit von Pflege die Rede sein kann, denn sie bedarf so gut als nichts.

Was geschehen ist, ahnt niemand im Hause. Der Baron hat an Rothe geschrieben, er ersuche um Aufklärung. Der Brief kommt uneröffnet zurück. Der alte Herr ist der Verzweiflung nahe; die trüben Erinnerungstage, das unaufgeklärte Zurückziehen Rothes, die Krankheit der Nichte – er weiß sich nicht anders zu helfen, als mit seinem alten Sorgenbrecher, dem Grog.

Hanne geht mit verweinten Augen umher. Sie hat die Thüre zur Ausstattungsstube verschlossen, nachdem sie über das weiße Brautkleid am Ständer, das wie ein Gespenst gestorbenen Glückes im grauen Zwielicht aussieht, ein Tuch geworfen, und dann den Schlüssel in die Tasche gesteckt.

O, ein Unglücksnest ist Haus Beetzen! Ist wohl schon einmal ein richtiges Glück darin gewesen, seitdem sie denken kann? Kaum glaubt man an ein wenig Sonnenschein, so jagt der Sturmwind wieder die schwärzesten Wolken daher –.

Auf den Zehen trippelt sie in Ditschas Zimmer und beugt sich über die Kranke und kann trotz der schwachen Beleuchtung die in Leid versteinerten Züge des lieben Gesichtes erkennen. Die alte treue Seele nimmt plötzlich die Schürze vor das Gesicht und bricht in Schluchzen aus. Ditscha bemerkt es gar nicht, sie, die sonst keinen Menschen, am allerwenigsten einen Untergebenen oder ein Kind weinen sehen kann –.

Am Abend kommt Hanne wieder; sie hat sich etwas ausgedacht, das Ditscha aufrütteln soll.

„Ach, gnä’ Fröln Ditscha, ich werd’ gar nich fertig, es liegt mich zuviel auf die Schultern mit de oll Winachtsbescherung för de Lüd, und das Kuchengeback –“

Ditscha wendet den Kopf nicht. Was geht sie das an.

„Der Junker barmt auch nach Sie, Fröln Ditscha!“

Das junge Mädchen hält mit leisem Stöhnen die Hand über die Augen, als wolle sie sagen: Laß mich, was kann ich noch sein für einen andern Menschen!

„Und de Herr Baron – ach Gott im hogen Himmel! gnä’ Fröln, den hat Friedrich gestern abend wieder to Bett bringen mußt – Sie wissen ja – de Grog – und hat nu keinen Menschen, der ihn davon abzieht.“

„Laßt mich allein!“ ruft Ditscha, „laßt mich allein!“ Und sie fährt mit beiden Händen in die Haare wie eine Verzweifelte. „Quäle mich nicht! Ich kann nicht mehr – geh’!“

Hanne geht und klagt dem alten Herrn etwas vor, und Franz fährt nach Bützow und holt den Arzt. Natürlich, Ditscha hat Fieber, aber eine körperliche Ursache sei nicht zu konstatieren, die ganze Geschichte sei psychisch. Ob man sie nicht fortbringen könne von Beetzen? Oder ob man sie nicht wenigstens veranlassen könne, sich auszusprechen über das, was sie quält? Eine Entlastung des Gemütes thue zuweilen Wunder.

Der alte Herr steigt selbst zu ihr hinauf, setzt sich mit bekümmerter Miene an ihr Bett und fordert sie in seiner ungeschickten gutmütigen Weise auf, ihm doch zu vertrauen.

Sie antwortet gar nicht.

„Aber Du mußt doch verständig sein, Kind; wenn Du alles so für Dich behältst, kann man Dir doch nicht helfen. Erzähl’ doch, Ditschchen, was hat’s gegeben?“ „Quäle mich nicht!“ schreit sie, „quäle mich nicht!“ Und sie gerät in eine solche Aufregung, daß Hanne sie nur mit Mühe im Bette festhalten kann und der Arzt den alten, ganz betroffenen Herrn aus dem Zimmer führt und ihm das Wiederkommen verbietet. Als sie dann mit Hanne allein ist, verfällt sie wieder in ihren apathischen Zustand, und so liegt sie den Heiligen Abend noch, völlig energie- und kraftlos.

Ach, es ist ein trostloser Weihnachtsabend, dieser, auf den sie sich so unsäglich gefreut hatte!

Gegen vier Uhr fordert sie von Hanne eine Tasse ganz starken Kaffee, sie trinkt ihn aus und fragt dann, sich emporrichtend: „Wie geht’s Onkel?“

„Wie soll’s ihm gehen? Sie wissen ja, gnä’ Fröln, hüt is doch Winachtabend und dortau is hei ganz allein. Bi tauslut’n Dör sitt hei un jankt na sin seel’ Fru, uns’ arm oll Herr!“

„Gehst Du in die Kirche, Hanne?“

„Ich möcht’ schon, damit Gott doch etwas Wohlgefälliges sieht aus düssem Hus, aber kann man denn fort? O, so’n Weihnachtens, so’n Weihnachtens! Und rein wie zerschlagen bin ick, und kein Mensch, der mich ’was abnimmt –. Und das geht ja auch nich, daß ich kann in der Kirche sitzen und mich an Gottes Wort stärken, denn wenn nu ’was passiert indes?“

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