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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Sicherlich will ich das, er wird mit uns den Morro passieren und mit uns in die Bai einlaufen.“

„Nun, vor der Boca wird er schon umkehren,“ meint ein anderer Mitreisender. „Durch die enge Hafenmündung zwischen dem Leuchtturm und der Punta gehen sie doch in der Regel nicht mit.“

„Der alte Herr da ohne Frage,“ erwidert der erste. „Je älter, desto frecher. Er hat es ja viel zu gut bei uns, unsere Küche füttert ihn geradezu, und die Hoffnung verläßt ihn nicht, daß einer von uns oder den Matrosen ein bißchen über Bord fällt.“

„Da kommen ein paar Kohlköpfe angeschwommen,“ ruft ein kleines Mädchen.

Richtig, man hatte sich in der Küche eben wieder von einigen nicht mehr ganz tadellosen Lebensmitteln befreit. Die Schiffsverwaltung hält auf guten Ruf, auch was den Tisch anbetrifft, den sie ihren Fahrgästen deckt, und die Speisen verderben rasch unter der Tropensonnc. In dem Augenblick, wo die Köpfe ins Kielwasser des Schiffes gelangen und in den Schaumwellen der Schraube auf und nieder tanzen, schießt der Hai heran. Im Herankommen legt er sich auf den Rücken, der weiße Bauch glänzt dicht an der Oberfläche des Wassers in der Sonne, der entsetzliche Rachen klappt auf und wieder zu, die Kohlköpfe sind verschwunden und der Hai schwimmt wieder in der Entfernung von vorhin hinter dem Schiff her, als sei nichts geschehen.

„Grotesker Kerl,“ sagt Johny. „Sehr angenehmes Gefühl, nicht neben den Kohlköpfen im Wasser gelegen zu haben.“

„Sicherlich,“ sagt der Herr von vorhin, „er hätte Fleisch dem Gemüse vorgezogen.“

„Ich finde es impertinent, mit dieser beharrlichen Bosheit hinter unserem Schiffe her zu schwimmen, in der Erwartung, daß wir ihm in den Rachen fallen,“ rief ein anderer. „Wollen wir ihm das nicht abgewöhnen? Revolver sind ja wohl genug vorhanden.“

„Werden ihm wenig Schaden thun,“ sagte der Kreole trocken, „höchstens Kugeln in den Bauch oder in den Rachen werden ihn etwas ärgern.“

„Glorreiche Idee,“ rief Johny. „Ein ausgezeichnetes Mittel, die Zeit totzuschlagen, ist es jedenfalls.“ Und zu seiner Schwester gewandt, setzte er hinzu: „Ganz gute Vorübung, auf die Haifischjagd sind wir ja doch ausgezogen, Don Antonio Carvajal sieht dem Kerl da unten vermutlich sehr ähnlich.“

Seine Schwester warf ihm einen schnellen warnenden Blick zu, und während sie ihn ansah, schüttelte sie fast unmerklich den reizenden Kopf, als wollte sie sagen: wie unvorsichtig, wie unvorsichtig wieder einmal, mein bester Johny. Ich bin ja so stolz auf dich, du schöner, braver, ritterlicher lieber Mensch, aber gescheit wirst du doch wirklich nie.

Hätte sie den Blick bemerkt, mit dem der dunkle Herr, der jetzt dicht hinter ihr stand, kurz aufgesehen hatte, als der Name Antonio Carvajal an sein Ohr schlug, sie würde noch besorgter den Kopf geschüttelt haben. Sie bemerkte ihn aber nicht, und als der Herr gleich darauf wieder mit in das Gespräch eingriff und sie sich auf seine Frage, ob die Damen an dem Sport teilnehmen würden, mit einem lustigen „Versteht sich, natürlich“ zu ihm wandte, da war ihm ganz und gar nichts davon anzumerken, daß ihm irgend etwas auch nur entfernt auffällig gewesen wäre.

Man beteiligte sich rege an der Ausführung des Gedankens. Der Hai wird gründlich, abgründlich gehaßt von allen, die auf Salzwasser fahren, und dieser Haß hat soviel Naturwüchsiges, soviel Echtes an sich, daß er sich auch auf die Neulinge sofort überträgt.

Zunächst wurde, wie sich das an Bord gehört, zum Kapitän mit der Anfrage geschickt, ob er etwas dagegen hätte, daß auf des Dampfers treuen Begleiter ein kleines Scheibenschießen veranstaltet würde. Der schwarze Steward, den man mit der Sendung beauftragt hatte, war grinsend abgezogen und Kapitän Nellan, der schleunigst die Erlaubnis persönlich brachte, lachte dabei über das ganze Gesicht.

Die Sache schien ihm übrigens nicht ganz neu zu sein, denn er gab sehr sachkundige Ratschläge.

Die Herren hatten inzwischen die Waffen heraufgeholt. Johny kam mit zwei Pistolen an, einem großen Coltschen Marinerevolver und einem kleineren, zierlicheren und kostbareren, den er seiner Schwester mit einem „Da bist Du“ überreichte.

Die Patronen hatte er lose in die Hosentaschen gesteckt, rechts trug er die für seine Schwester, deren fein gearbeiteten fünfschüssigen Revolver er zuerst lud, dann bediente er sich selbst aus der linken Tasche.

Der farbige Diener der Geschwister, Bob, war dem Kapitän zur Verfügung gestellt worden, der ihn in die Küche, in die Offiziersmesse und die Leutekojen geschickt und ihn dann neben einen Haufen allerlei zusammengeschleppter Dinge vorn im Bug des Dampfers an Backbord aufgestellt hatte.

Den Passagieren gab der alte, ausgewetterte Schiffsleiter genaue Anweisungen: „Also, meine Damen und Herren, Sie stellen sich hier hinten nebeneinander am Geländer auf, so, die Reihe nach Backbord herum, damit Sie die Brise nicht im Gesicht haben; sobald ich ‚Los‘ rufe, wirft der Bursche vorn jedesmal etwas für den Herrn Hai über Bord. Während der Leckerbissen längsseits nach hinten treibt, machen Sie sich fertig; sobald der Kerl schnappt, geben Sie Feuer, die ersten beiden Male aber noch nicht. Da zielen Sie nur alle zur Probe und richten sich hübsch ein, erst müssen wir den Bummler etwas sicher machen, dann wollen wir ihn narren.“

Man ordnete sich. Außer Fräulein Arlington trat noch eine andere junge Dame mit an, die aber durch die Art, wie sie mit ihres Papas Revolver hantierte, gefährlicher für die Nachbarn als für den Hai zu werden drohte; Herren waren es sieben oder acht.

„Reguläre Breitseite,“ schmunzelte Kapitän Nellan, „der alte Herr dahinten wird sich wundern.“

Hinter der „Schützenkette“ standen jetzt alle andern Passagiere und sämtliche Kinder drängten sich dazwischen, mit äußerster Spannung der Dinge harrend, die da kommen sollten.

Kapitän Nellan stellte sich gerade unter der Kommandobrücke auf, die das Promenadendeck noch um etwa zwei Meter überragte. Er konnte von da aus bequem den Mulatten vorn am Bug und seine Passagiere hinten am Heck sehen. Ueber ihm schritt der erste Offizier, der die Wache hatte, auf und ab; wenn er in der Mitte der Brücke hinter dem Mann am Steuerrad vorüberkam, warf er zuweilen einen flüchtigen Blick auf das Kompaßhäuschen, ob er auch stetigen Kurs auf Havanna hielt: Südsüdwestbeisüd. Das war alles, was er thun konnte, denn wie eine Tischplatte lag die dunkelblaue See da, ebenso tiefdunkelblau glühte wolkenlos der Tropenhimmel darüber, kein weißes Segel, so weit das Auge reichte, keine schwarze Dampferwolke bis an den fernen Horizont!

Auch der Offizier auf der Kommandobrücke interessierte sich für den Scherz, der sich unten vorbereitete und dessen Verlauf er noch besser als alle andern verfolgen konnte.

„Los!“ rief jetzt der Kapitän dem Mulatten zu, ein mächtiges Stück Fleisch flog über Backbord in die See und trieb rasch längsseits nach hinten.

„Nicht schießen, nur zielen, meine Damen und Herren,“ rief Nellan nach dem Heck.

Die Schützen gerieten in Bewegung, die Waffen hoben sich. „Da, da!“ schrieen die Kinder, der Hai hatte das Fleisch bemerkt, wie ein Pfeil schoß er darauf zu, die Rückenflosse teilte die Schaumwellen des Dampfers, mit einem Ruck drehte er sich, der weiße Bauch glänzte einen Augenblick dicht an der Oberfläche auf und verschwunden waren Fleisch und Fisch.

„Aha“, sagte Johny Arlington, „den Bissen verzehrt er in Ruhe.“

So war es, der Räuber war in die Tiefe getaucht. Es währte aber kaum zwei Minuten, da war er wieder da. Diesmal dichter am Schiff und schon an Backbordseite.

„Das hat ihm geschmeckt,“ meinte Kapitän Nellan höhnisch, der sich mittschiffs über die Brüstung gebeugt hatte. „Warte nur, wir wollen Dich noch zahmer machen, alter Bursche. Also, Herrschaften, noch einmal nicht schießen.“

„He, Bob, los!“ Wieder flog ein Stück Fleisch ins Meer. Es war noch etwas größer als das erste. Wieder verschlang der Hai es im Nu, wieder schoß er damit in die Tiefe und wieder tauchte er kurz darauf neben dem Schiffe empor, noch näher als vorhin, halb längsseits, gerade unter den Revolvern der Passagiere.

„Nun im Ernst,“ rief jetzt der Kapitän, „Achtung, Bob, los!“

Es klatschte diesmal hohl aufs Wasser, und lautes Gelächter erhob sich am Heck unter Schützen und Zuschauern, als ein Cigarrenkistchen leicht auf dem Wasser herangetanzt kam.

Der Hai war sicher und gierig geworden durch die großen Fleischstücke, die so gefahrlos und so lecker gewesen waren, blind fuhr er auf den neuen guten Bissen los, im Nu lag er auf dem Rücken, der riesige Rachen mit den entsetzlichen Zahnreihen klappte auf –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_382.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2021)