Seite:Die Gartenlaube (1895) 354.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

war kurz folgender: der Patient wurde am Fünften eingebracht, Konturschuß mit Frakturierung der fünften rechten Rippe. Kein Ausgang am Schußkanal. Das Allgemeinbefinden war ziemlich gut, afebril. Die erste Sondierung blieb resultatlos. Ich weiß nicht, was drinsteckt, ein Granatsplitter oder Tuchfetzen.“

„Sie haben die Wunde erweitert?“ fragte der andere.

„Wie Sie sahen. – Ich habe Rippenfragmente extrahiert, sonst nichts gefunden. Es kam rasch zunehmendes Fieber, Schüttelfröste und Erhöhung der Schmerzen. Die Zunge ist trocken –“

„Starkes Durstgefühl, und so weiter –“

„Ja; das Infiltrat verhärtete sich. Das Sensorium blieb frei. – Ich machte Incisionen, konnte aber den Eiterherd nicht finden. Delirien und steigendes Fieber. Es hält seit gestern hochgradig an, und die zunehmende Schwäche läßt mich befürchten –“

„Pneumothorax –?“

„Jawohl,“ nickte der Alte. „Ich habe ihm Chinin gegeben, Milch mit Cognac, Eier, Champagner. – Regelmäßige Essigwaschungen. Wir können nichts anderes machen –“

„Vollkommen Ihrer Ansicht,“ sagte der Jüngere. „Und die Pflege hier?“

„Vorzüglich.“

„Ich danke also. Ich glaube, wir könnten gehen?“

In der Thür drückte der alte Arzt Schwester Brigitte die Hand. „Leben Sie wohl, liebe Schwester. – Ein verlorener Posten. – Es ist nichts zu machen.“

Sie stand und starrte vor sich hin. Jedes Wort, das sie gehört hatte, war wie ein Schlag auf sie gefallen. Sie hatte so gut verstanden, daß die menschliche Kunst zu Ende sei. Ein verlorener Posten!

Dann aber klammerte sich ihr ratloses Herz an den einen Glauben: es kann doch ein Wunder geschehen und ihm das Leben schenken! – Ein Wunder – ein Wunder! – Das Wort wich nicht mehr von ihr, als liege darin die Urkraft und die Wurzel von allem, als sei das ganze Leben selbst nur ein Wunder.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Landrätin, „die arme Schwester scheint nun auch am Ende ihrer Kraft. Wenn man doch für eine Ablösung Sorge tragen könnte –“

„Ach, so meinen Sie wohl, Frau Landrat,“ entgegnete Frau Stübel, „aber die sind es gewöhnt. Unsereinem geht der fremde Jammer in die Glieder und auf die Nerven. daß einem das Herz ganz schwach wird. Aber die Schwestern – lieber Gott! Die müssen es wohl gewöhnt sein so nach ein paar Jahren, und da thun sie es denn, wie jeder andre seinem Beruf nachkommt. Die sind von Eisen. Eine einzige ist stärker in ihrem barmherzigen Thun als wir alle mitsammen.“

Sie täuschte sich. Die stille Schwester war sterbensmüde, als hätte sie die ganze eigne Kraft dem fremden Elend zugesetzt. Sie wandelte wie im Traum, in einer Art harrender Ergebung ....

Und wieder, wie in allen den Tagen, spannte sich der Sommerhimmel so klar und durchsichtig über das Land, daß die Natur doppelt schön und ihr Friede doppelt groß erschien. Ein kosender Windhauch strich gegen Abend über den Wald und die Weide, als die Sonne langsam tiefer glitt nach dem fernen Horizont, wo die dunklen Waldstreifen hinausverliefen in dem flimmernden blassen Blau.

Die alte Frau hatte diesmal Schwester Brigitte nicht ausweichen lassen; sie mußte wieder einmal hinab ins Freie. Frau Stübel hatte gut reden; aber was zu viel ist, ist zu viel! Sah die arme Schwester nicht selbst schon aus, als wäre sie krank: mit den schmalen Wangen, von denen die Zimmerluft alle Farbe weggenommen hatte, mit den fieberisch müden Augen, die aussahen, als hätten viele Thränen das Licht daraus verlöscht, und mit der müden dünnen Gestalt, an der die festgemute Haltung verschwunden war, mit der sie damals ins Haus getreten! Es wollte der Landrätin nicht in den Sinn, daß solche Hingabe ein wohlgefälliges Opfer sei. Diesmal wies sie allen Widerspruch wohlwollend zurück, und Schwester Brigitte mußte hinaus in die Luft.

Sie schritt gedankenlos durch den Garten hinab, auf die Weide hinaus und setzte sich auf die Bank unter dem großen Baume.

In der Ferne schlenderte der kleine Hirtenbub’ neben seinen Kühen durch das Gras und stieß unharmonische Töne aus seiner selbstgefertigten Schwegelpfeife hervor. Sein streifender Blick entdeckte aber gleich die Gestalt auf der Bank. Da war sie wieder, die schwarze Frau aus dem Landhaus! Er stand still, ließ die Pfeife ruhen und lugte verwundert zu ihr hinüber, denn sie war mehrere Tage nicht hergekommen, das wußte er genau, er hatte ja gehörig aufgepaßt. Eine große Neugierde erfaßte ihn, sie einmal in der Nähe zu besehen. Und sein Plan war gleich fertig. Er machte langsam einen weiten Bogen über die Wiese, bis er ihrem Gesichtskreis entschwunden war. Dann schlüpfte er pochenden Herzens durchs Gebüsch. Wenn er die große Haselstaude erreichen könnte! Dort war er ihr ganz nahe, so nahe, daß er sie ganz genau sehen konnte. Ein solcher Eifer kam über ihn, daß er der Brennesseln nicht achtete, die seine kleinen braunen Waden verbrannten, als er, bald aufrecht, bald auf allen Vieren, sich heranschlich wie ein Jäger ans Wild. Und endlich war er bei der großen Haselstaude. Wenn ein Zweiglein knackte, zitterte er vor Angst, als sei das ganze großartige Unternehmen mißglückt und er auf dem strafbaren Wege ergriffen. Aber alles blieb ruhig, die schwarze Frau rührte sich nicht, und so kauerte er nun da, hielt den Atem an und lugte mit weitaufgerissenen, verwunderten Augen zu ihr hinüber.

Sie regte sich gar nicht und blickte nur immer gerade aus, auf seine Kühe. Der Lauscher im Busch fand das sehr absonderlich, aber er hätte doch gerne etwas Neues gesehen, etwas Ungewöhnliches entdeckt, und wie sie eine ganze Weile so still blieb, ward er beinahe ungeduldig.

Plötzlich aber geschah doch etwas sehr Merkwürdiges. Die schwarze Frau schlug auf einmal beide Hände vors Gesicht und brach in Schluchzen aus.

Das Herz des kleinen Jungen packte eine heillose Angst, ein drängendes Rettungsbedürfnis aus einer dunklen Gefahr. Er schob sich eiligst nach rückwärts und hatte keinen andern Gedanken mehr als schleunige Entfernung aus der unheimlichen Nähe. Anfangs achtete er noch ein wenig darauf, daß es nicht zu arg in den Zweigen raschle, dann aber zwängte er sich, unbekümmert darum, durchs Dickicht, und als er den Wiesenrand glücklich wieder erreicht hatte, fing er an zu laufen, als ob die schwarze Frau hinter ihm drein wäre, ihn am Kragen zu packen. Erst bei seinen Kühen angekommen, hielt er an, und eine schwere Sorge fiel von seinem Herzen, als er, verstohlen hinblickend, die Gestalt noch immer wie früher auf der Bank sitzen sah.

Schwester Brigitte schaute wieder vor sich hin, über die Wiese hinaus, über die Weide, auf der hin und wieder ein mageres Bäumchen stand, vor den herumschlendernden Kühen durch Latten geschützt. Sie blickte darüber weg und gegen das Wäldchen, über welchem die Spitze des Kirchturms aufragte, und gegen den blauen Himmel. Sie blickte in die Weite, als ob sie etwas suchte, etwas Fernes, Verblaßtes, Unsicheres. Ihr Blick wanderte langsam, als suchte er, wie ihre Gedanken, ein bestimmtes Ziel, einen bestimmten Punkt auf einer weiten Bildfläche. Was Schwester Brigitte suchte mit den wandernden Blicken und den wandernden Gedanken, war sie selbst. Es litt sie nicht lange da; dann erhob sie sich und kehrte wieder gegen das Haus zurück. Zwischen ihren Brauen zog sich eine feine scharfe Falte hinauf und kreuzte Schmerz und Strenge auf ihrer Stirn ....

*  *  *

Der Kranke lag in großer Unruhe; keine Lage behagte ihm mehr. Kurz und schwer ging sein Atem, und über seine bläulichen Lippen drang oft ein schmerzlicher Seufzer. Er begehrte beständig zu trinken und hatte alle Aufmerksamkeit für die Umgebung verloren, aus der ihn abgerissene Phantasien weit fort führten.

Sie stand unablässig an seiner Seite, als könnte sie dem schwer bedrängten kranken Körper von der eigenen Kraft etwas geben. Der Arzt kam spät; gerade heute hatte sie ihn so sehnlich herbeigewünscht. Er verdoppelte ihre Sorge.

„Was können wir machen mit einem Leben, das unserer Hand entflieht –?“

Aus seinem Blick, als er wieder ging, schöpfte sie eine ahnungsvolle Angst.

Die Nacht brach an. Der Kranke wälzte sich ruhelos hin und her; seine Schläfen pochten und seine Stirne war schweißbedeckt. Zwischen den kurzen stöhnenden Atemzügen stieß er wirre Phantasiegespräche mit eilenden Worten hervor, und dann lag er zeitweise wieder ruhig und müde in den Kissen.

Schwester Brigitte saß beim Tische, auf den der Lampenschein gedämpft unter dem grünen Zeugschirme niederquoll. Als steckte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_354.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2021)