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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

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Wiener Marktleben.

Von V. Chiavacci. Mit Abbildungen von W. Gause.

Das leibliche und geistige Wohlbefinden eines Menschen hängt – so prosaisch es klingt – von den Eigenschaften und Fähigkeiten seines Magens ab. Daß dieser Erfahrungssatz auch auf das tausendköpfige Gemeinwesen einer Großstadt Anwendung findet, ist nicht nur sinnbildlich zu verstehen, wie die bekannte Fabel des Menenius Agrippa, der einst den Plebejern im alten Rom die Notwendigkeit des Zusammenwirkens aller Stände durch das Gleichnis vom Magen und von den Gliedern des Körpers darlegte, sondern er gilt auch im wörtlichen Sinne. Die Antwort auf die Frage, wie sich die Bevölkerung einer Stadt ernährt, giebt uns manchen wichtigen Aufschluß über die natürliche Entwicklung und die Charaktereigenschaften ihrer Bewohner. Das lebensfrohe Wien, mit seiner naiven Freude an materiellen Genüssen und seiner heiteren und geselligen Sinnesart, die ihm den Namen der „Stadt der Phäaken“ eingetragen hat, verdankt sein eigentümliches Gepräge nicht zuletzt der Vortrefflichkeit und glänzenden Fülle der auf seinen Märkten aufgestapelten, Herz und Gaumen erfreuenden Dinge. Versichert doch schon im 16. Jahrhundert der biedere Schullehrer und Poet Wolfgang Schmeltzl in seinem „Lobspruch der Stadt Wienn“ am Schlusse seiner begeisterten Schilderung:

„Der Schmeltzl kein pesser Schmalzgruob fand,
Ich lob diz Ort für alle Land’.“

Der Wildbret- und Geflügelmarkt.

Inmitten des Ueberflusses einer reichgesegneten Landschaft gelegen, vereinigt Wien alle Bedingungen in sich, um den uralten Hang des Wieners für Tafelfreuden als ein natürliches Erzeugnis des Bodens erscheinen zu lassen. An den Hügelgeländen des Kahlengebirges wuchs und wächst heute noch manch prächtiger Tropfen feurigen Weines, der es mit vielen seiner gepriesenen Vettern aus anderen Gauen aufnehmen kann und der in alten Zeiten noch an den Stellen gedieh, wo sich gegenwärtig das Häusermeer der Vorstädte und Vororte ausdehnt. Jenseit des mächtigen Donaustromes bildet die unübersehbare Ebene des Marchfeldes eine wogende Flut von goldenen Aehren. Das obstgesegnete Land ob der Enns sendet schwere Frachtschiffe stromabwärts, die ihren Reichtum an Früchten aller Art an der von altersher bekannten Uferstelle, dem „Schanzl“, aufspeichern. Von Osten her, aus dem Ungarlande, kommen Mastvieh und Geflügel, Melonen und Kürbisse herauf. Die Donau selbst spendet ungezählte Arten von Fischen und Krebsen. Die alten Marktplätze, welche im 16. Jahrhundert der alte Schmeltzl staunenden Auges besah, dienen heute noch zum größten Teil demselben Zwecke. „Am Hof“ und „auf der Freiung“ sowie am „Hohen Markt“ ist noch dasselbe Marktgewühl zu sehen; andere Plätze freilich, wie die Seilerstätte, der Mehlmarkt, Judenplatz, Salzgries, haben ihre ehemalige Bedeutung ganz oder zum Teile eingebüßt. Und auch sonst hat das Marktleben Wiens im Laufe der Zeiten tief einschneidende Veränderungen erfahren. Die Großmarkthalle auf der „Landstraße“, die Markthallen in den einzelnen Bezirken sind, den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechend, mächtige, gedeckte Gebäude. Neben ihnen besteht aber, je nach Bedürfnis und Gewohnheitsrecht, in der inneren Stadt und in den Vorstädten noch eine ziemliche Anzahl von offenen Märkten mit ihren „Standeln“ und Bretterbuden fort, die besonders in den Morgenstunden ein lebhaft bewegtes Volkstreiben zeigen und in ihrer Eigenart ein Bild darstellen, das sich wohl wenig von dem vergangener Jahrhunderte unterscheidet.

Das Leben eines solchen vielgestaltigen Organismus beginnt schon in den frühesten Morgenstunden. Der Fremde, den in den ersten Stunden nach Mitternacht sein Weg durch die Schotten- und Herrengasse führt, wird mit Verwunderung die vermummten Gestalten betrachten die, mit mächtigen „Butten“ und Körben beladen schlaftrunken an ihm vorüberhuschen. Desgleichen sieht er Fuhrwerke aller Art, deren Gespann träge dahinschleicht, während der Kutscher, in tiefen Schlaf versunken, im Wagen liegt. In der Herrengasse und auf der Freiung stehen ganze Wagenburgen, mit Butten und „Schwingen“ und sonstigen Gefäßen beladen. Die Besitzer dieser Gefährte sind Landleute, die aus den umliegenden Ortschaften oft schon am frühen Nachmittag des vorhergehenden Tages aufgebrochen sind, um ihre Waren rechtzeitig auf den Markt zu bringen. Um diese Morgenstunde bieten auch manche Kaffeehäuser in der Nähe der Freiung oder am Hof einen eigenartigen Anblick. Sie sind vollgepfropft mit zumeist weiblichen Kunden, die sich durch ihre „Gugel“, das um Kopf und Hals gewundene Wolltuch, durch ihr massives Schuh- und noch massiveres Mundwerk als Marktweiber zu erkennen geben. Sie sitzen vor ganz ungewöhnlich großen Schalen voll dampfenden Kaffees und führen eine sehr lebhafte Unterhaltung, die an Urwüchsgkeit des Ausdrucks und Anschaulichkeit der Bildersprache nichts zu wünschen übrig läßt. Bald darauf wird es auf dem Markte lebendig. Die Zwischenhändler nehmen die Waren in größeren und kleineren Posten den Landleuten ab, und während diese sich mit ihren Fuhrwerken zur Heimfahrt rüsten, richten die Zwischenhändler ihre Marktstände ein.

Das lebendigste und eigenartigste Marktbild zeigt der Naschmarkt am rechten Wienufer, zwischen dem Freihause und der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_348.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)