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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Wie lebend, mein Kind!“ Dann brach die arme alte Stimme und schluchzend setzte er hinzu: „Und doch ist er tot – mein armer, armer Junge!“

Und wieder war es still und die beiden lehnten stumm aneinander, der alte Mann, vornüber gebeugt, und die Augen fest schließend unter den weißen Brauen, als wollte er die Thränen zurückhalten in seinem Herzen, und das Mädchen, ihr Gesicht in die Arme drückend, die sie über des Vaters Kniee gestreckt.

Ein einziger Gedanke erfüllte Käthe, ein einziger Wunsch, in den sich ihre ganze Empfindung zusammendrängte. Sie wollte noch einmal ihre Lippen auf Huberts Stirne legen, ihn noch einmal küssen. In diesem Kuß sollte alles liegen, was ihre Seele ihm zu geben vermochte: der Abschied für ewig, Vergessen und Friede. Ihr schien, sie könnte ihn nicht hinübergehen lassen ohne diesen Gruß. Und alle Zärtlichkeit ihres Herzens erwachte wieder in diesem Wunsch.

O, warum hatte sie es damals nicht thun können, damals, als er darum bat – als sie beide noch dagestanden in des Tages Sonnenlicht? Und jetzt –

Sie wollte mit ihrem Kusse alles hingeben, was ihr Herz zur eigenen Sühne wußte. Zur Sühne für den eitlen Glückstraum, den es gewoben, und weil es vermessen das eigene Schicksal in sich zu tragen geglaubt hatte.

Nun wollte es sich beugen in Demut. Und er selbst sollte fortgehen mit dem Zeichen ihrer Sühne. Nicht ruhelos zitternd sollte seine Seele im Jenseits ihrer Härte gedenken und ihr selbst damit eine ewige Schuld zur Last legen.

Wie eine heilige Mahnung hörte sie es in sich, daß der Tote ihrer harre. Der Gedauke hielt sie fest, durchdrang und erfüllte sie. Er wich keinen Augenblick von ihr; er hatte sie angerufen im ersten Worte, das ihr die schwere Kunde brachte, er war laut in ihrem Herzen in der schlummerlosen Nacht, er leuchtete vor ihren Augen mit dem ersten Sonnenstrahl des neuen Tages und klang durch die Lüfte in jedem Glockenton, der an ihr Ohr schlug.

Am Nachmittag machte sie sich zu dem Gange auf. Sie hatte sich nicht früher dazu entschließen können, aus Angst, nicht allein dort zu sein.

Der Vater sah, wie sie fort wollte.

„Ja, ja, Käthe; Du mußt nun hingehen!“

Sie hielt sich knapp an den Häusern und scheute sich, aufzublicken.

Und immer mußte sie an die Worte des Vaters denken: „Er sieht aus wie lebend.“

Unten im offenen Flur des alten Hauses, wo er gewohnt hatte, hinter dem Thorflügel an die Wand gelehnt, stand der schwarze Sargdeckel.

Es gab ihr einen Stich ins Herz.

So ist es also wahr – wirklich wahr und unabänderlich!

Ihr Schritt wurde langsamer auf jeder der knarrenden ausgetretenen Stufen der Holztreppe. Und sie mußte sich fest auf das Geländer stützen. Niemand begegnete ihr, und sie sah sich mit einer Art gedankenloser Neugierde um.

Hier ist er auf und ab gegangen, jahrelang, mit dem eiligen, elastischen Schritte, der ihm eigen war, immer drei Stufen auf einmal und nun wird er zum letztenmal herabkommen, von den Leichenmännern getragen.

Oben auf dem Vorplatze stand die alte Hauswirtin mit rotgeweinten Augen. „Ach, Fräulein Käthe, der arme Herr Hubert! Er war immer so gut zu mir!“

Schweigend drückte sie der Alten die knochige Hand; sprechen konnte sie nicht.

„Sie wollen zu ihm? – Da liegt er,“ sagte die Frau und wies rechts hin nach der Thüre.

Mit der Hand an der Klinke, blieb Käthe einen Augenblick tief aufatmend stehen, da das Herz ihr in der Kehle klopfte. Dann trat sie hinein.

Ihr erster Blick fiel geradeaus, gegen die beiden Fenster, die weit offen standen. Man sah über den kleinen Hof auf die Felder hinaus und die sonnigen Wiesen. Ueber die Heide, in der Ferne, wie ein dunkles Band, zog der Forst sich hin. Wolkenlos spannte sich der blaue Himmel über der Sommerlandschaft.

Sie zögerte, ihre Augen davon abzuwenden. Aber sie wußte, dort war’s, an der Wand links in der Tiefe des leergeräumten Zimmers. Noch sah sie nichts als den Kerzenschimmer, der blaß aus dem Schatten leuchtend ihr Auge streifte. Und endlich wandte sie sich hin und sah ihn vor sich.

Das ist er!

Er lag auf einem niedrigen Feldbette, in seiner Uniform, die bleichen Hände auf der Brust ineinander gelegt.

Wie sie schmal und dünn aussahen! Das war nicht seine Hand! Kränze aus Tannenreis und Blumen lehnten an ihm und über ihm.

O du bitterer, trauriger Liebesschmuck! Nur die Toten tragen ihn so!

Das Kinn auf den Rockkragen mit dem goldenen Eichenlaub starr herabgeneigt, ruhte das wachsbleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen auf dem Kissen.

Das ist er!

Nein, nein! – So war er lebend nicht! Etwas Kaltes und Fremdes, etwas Schreckliches hat sich über die vertrauten Züge gebreitet. Eine harte, grausame Hand hat die Linien des Lebens in Starrheit gestreckt und verwischt. – Vergeblich denkt sich die Sehnsucht den warmen Pulsschlag in die eingesunkenen Schläfen; vergeblich wartet der Blick, daß die farblosen Lippen sich bewegen – nur einmal noch, nur ein einziges Mal!

Und wenn sie seine Stirn berührt, wird sie kalt sein wie ein Steinbild in frostiger Nacht. Und seine Hände hart und leblos! Und kein Atemzug wird über seine Lippen gehen; nur der Hauch des Todes. Ein Schauer legte sich um ihr eigenes Herz, als zöge eine unsichtbare Hand auch sie in Grabeskälte.

Langsam schritt sie zu ihm, kniete zu seinen Füßen nieder und neigte das Haupt betend auf die gefalteten Hände.

Und dann klang es in ihrem Ohr: „Küß’ mich noch einmal, Käthe – nur noch einmal!“

Sie erhob den Kopf und schaute auf seine bleiche Stirn. Leise flackerten die zwei Kerzen im Luftzuge, und in dicken Tropfen spann sich das abfließende Wachs daran herunter.

„Küß’ mich noch einmal, Käthe!“

War es nicht, als hätten seine Lider gezuckt – war es nicht, als hätten sich seine fahlen Lippen bewegt? –

Und nein! Und nein! – Denn das ist er nicht. Er ist es ja nicht mehr! Er selbst ist hinweg, fort – in die Ewigkeit. Ohne Abschied gegangen, wohin kein Ruf, keine Klage, keine Bitte reicht; wohin kein Flehen dringt und kein Jammer unseres Herzens. Er ist es nicht mehr. Es ist kein Licht in seinen Augen, kein Schlag in seinem Herzen, kein Ton auf seinen Lippen. Das ist nicht er – es ist der Tod.

Und leise bebend senkte sie den Kopf wieder auf die Hände. Sie regte sich nicht. Sie lag wie versteinert auf den Knieen, wie ohne Leben, ohne Gedanken.

Nur eine gräßliche Empfindung, unklar und doch durch alle ihre Nerven greifend, überkam sie. Ein Schauder ging durch ihre Fingerspitzen und legte sich auf ihre Lippen; ein kaltes Grauen umflorte ihre Sinne.

Kein Laut regte sich.

Ein Vöglein flatterte auf das Fensterkreuz, drehte den Kopf, lugte in den stillen Raum und schoß dann laut schreiend wieder von dannen, als wäre ihm unheimlich zu Mute geworden.

*  *  *

Herr Krüger wurde unruhig über Käthens langes Ausbleiben. Endlich machte er sich auf den Weg. Sie konnte doch nirgends anders sein. Er fand sie auf den Knieen am Fußende des Totenlagers hingestreckt. Sie richtete sich auf, als er sie an der Schulter faßte, und sah ihn verwirrt an, wie aus einem ohnmächtigen Schlummer erwachend.

„Komm jetzt, mein Kind! Du bist so lange ausgeblieben!“

Sie sah zu Boden, als hörte sie ihn nicht.

„Ich wollte Abschied nehmen,“ sagte sie tonlos.

Den alten Mann beschlich ein ängstliches Gefühl.

Er legte den Arm um sie.

„Ja, Käthe, wir nehmen Abschied. Komm!“

Sie wollte sich losmachen, sie wollte ein Wort sagen – aber die Zunge klebte ihr am Gaumen. Willenlos ließ sie sich wegführen. Die Thüre schloß sich hinter ihr, und wie im Traum ging sie wieder hinab über die Treppe, neben dem Vater, der ihre Hand fest in der seinen hielt und ab und zu etwas sprach, das sie nicht hörte.

*  *  *

Der Sommer verlief, und es kam der Herbst. In dem kleinen Hause an der Ecke des Marktes wurde es recht still und einsam.

Der Vater wurde ganz wortkarg und in sich gekehrt. Sein

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