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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.
(4. Fortsetzung.)


Gerade als Herr Meier unter die Hausthüre treten wollte, weil sich der Schatten des Nachmittags über den Markt neigte und er um diese Stunde immer einmal aus dem Glasverschlag des Ladens heraustrat, wo sein Pult stand, kam der Doktor mit eiligen Schritten, wie es sonst gar nicht seine Gewohnheit war, quer über den Platz herüber und machte von weitem ein Zeichen mit der Hand.

Herr Meier fuhr mit der Hand nach seinem bloßen Kopf, als ob er die Mütze lüften wollte, die er wegen der Schwüle abgelegt hatte, und lächelte dem Doktor entgegen.

Der aber faßte ihn, ohne vorerst ein Wort zu sagen, an der Rockklappe und drängte ihn etwas in den Flur hinein.

Und beim ersten Worte, das der Doktor sprach, mit einem seltsam pfeifenden Ton, als ob ihm der Atem fehle, fuhr Herr Meier zurück, als hätte er einen Schlag vor die Stirne bekommen.

Käthe sah vom Fenster gegenüber, wie beide mit den Armen in der Luft gestikulierten und heftig aufeinander einsprachen. Dann liefen sie beide in den Flur zurück und verschwanden im Hause. Gleich darauf schlug man oben in Gustis Zimmer die Fenster zu.

Was mochte nur geschehen sein?

Käthe trat hinaus. Der Vater stand im Gange und putzte die dürren Blättchen von den Pflanzen fort, die dort auf einem langen Brette in die Kühle gestellt waren.

„Was mag es bei Meiers drüben geben?“

„Ich habe auch so eine Bewegung gemerkt,“ sagte der Vater.

Käthe sah auf den Markt hinaus.

„Sieh) da kommt er nun herübergelaufen!“

Herr Meier kam hastigen Schrittes über den Platz geeilt. Er war barhaupt wie früher und sein Gesicht war dunkelrot.

Kaum unter der Thüre, rief er keuchend: „Herr Krüger – wissen Sie –“

„Was giebt es denn?“

„Vom Hubert –“

„Wir wissen nichts –“

„Er ist tot!“ schrie Herr Meier und fuhr mit den Armen in die Luft. „Mausetot!“

„Großer Gott, was sagen Sie?“ rief der alte Mann erbleichend, und ein kurzer Aufschrei brach von Käthens Lippen.

„Heut’ mittag – im Wald. Sie haben ihn erschossen aufgefunden. Der Lump hat es gethan, der Stoser, der erst vor ein paar Tagen losgekommen. Herrgott! Herrgott!“

Herr Meier lief im Flur auf und ab und fuhr sich mit den Händen durch das triefende kurze Haar.

„Er hat sich gerühmt, im Wirtshaus, die Kanaille, daß er’s dem Jäger heimgezahlt! Herrgott, mein armes Kind! Meine Gusti! Sie bringen ihn eben herein. Herr Krüger, Fräulein Käthe – können Sie ’s nur fassen, so ’was Gräßliches?“

Der alte Mann stand wortlos da. Sein grauer magerer Kopf zitterte, wie er Herrn Meier unverwandt ansah in hilfloser Bestürzung, mit schwimmenden Augen. Seine entfärbten Lippen thaten sich immer wieder auf, als ob er nach Luft ringe, oder nach einem Wort – aber er brachte keines hervor.

Käthe lehnte an der Thür der Wohnstube, mit den Armen hinter dem Rücken. Eine Eiseskälte schauerte durch ihre Brust und über ihre Glieder. Ihr war, als ob ihr Herz stillstehe, selber starr und tot werde. Sie hatte den Kopf gesenkt, und alles Leben schien von ihren Wangen gewichen. Wie versteinert ruhte ihr Blick immer auf dem gleichen Punkt – auf dem häßlichen braunen Fleck auf der Diele gerade vor ihr, als ob sie gar nichts anderes mehr sähe. Der Fleck tanzte und drehte sich vor ihren Augen. Sie blickte immer hin auf seinen zerflossenen Rand. Ihr Herz zuckte wie ein verwundeter Muskel. Und der Fleck brannte vor ihren Blicken wie Feuer, wie Blut.

Herr Meier blieb vor ihr stehen. Er wischte sich mit der Faust über die Augen und sagte kläglich: „Fräulein Käthe, gehen Sie doch hinüber zur Gusti! Mein armes Kind, es möchte selber am liebsten sterben! Ach, geh’n Sie doch zu ihr, Fräulein Käthe! Herrgott, was für ein Grausen!“

Sie löste sich gewaltsam aus ihrer Erstarrung.

„Ja, ich gehe, jetzt gleich. Sei nur ruhig, Vater, sei nur ruhig! Wir müssen uns in alles fügen. Gott hat es gewollt!“

Der alte Mann legte die bebenden Arme um ihren Nacken und küßte sie weinend.

„Käthel! Käthel!“ wiederholte er leise schluchzend, und seine erloschene Stimme zerriß ihr das Herz.




6.

Käthe hatte sich sanft von der Umarmung des Vaters losgemacht und war hinausgeschritten. Auf dem Wege erwuchs in ihr eine übermenschliche Kraft. Sie strich das Haar aus den Schläfen, als wollte sie jede Schwäche beiseite schieben. Ihre festgeschlossenen Lippen regten sich nicht, und sie ging raschen und sicheren Schrittes den Markt hinab, als schritte sie einer heiligen Pflicht entgegen. – –

Als sie dann heimkehrte, war der Vater nicht da. Sie nahm einen Korb und ging in den Garten hinaus. Es dämmerte schon an der Hecke, wo sie Zweige abschnitt von den Fichtenbäumchen und von der Stechpalme. Dann ging sie durch die Beete und brach Astern und Levkojen. Der Abend sank nieder, als sie den Korb ins Haus trug.

Sie wollte die Arbeit machen, bevor der Vater kam. Mechanisch banden ihre Finger die Zweige zusammen, und der Kranz rundete sich unter ihren Händen. Sie sah darauf nieder und band die Blumen mit dem Draht fest. Einmal stach sie sich, und als ein Tröpfchen Blut auf das Blatt fiel, schauderten ihre Hände.

Mitten in der Arbeit erhob sie sich und ließ den Kranz raschelnd zu Boden gleiten. Sie ging durch den dunklen Flur hinaus, über den Kiesweg, unter den alten Baum und setzte sich auf die Bank.

Kein Laut regte sich; die Nacht brach an. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr; nur an den hochstengeligen Lilien leuchteten die weißen Kelche wie bleiche Sterne und sahen beinahe gespenstisch durch die Finsternis.

Wo bist du, du anderer, du friedlicher weicher Sommerabend mit deinem Blütentraum? Wo bist du hin mit deinem Klang, du süßes, wortloses Lied des Herzens? Ihr seligen, geheimen Gedanken, wo seid ihr an das Ziel gelangt?

Wohin ist alles?

Und aus der Dunkelheit streckte sich ein beklommenes Angstgefühl nach Käthe aus, als griffe etwas Gestaltloses nach ihr. Sie fuhr vor der Kälte ihrer eigenen Hände zurück, und die Einsamkeit des Gartens wurde ihr unerträglich, so daß sie sich wieder erhob und ins Haus ging.

Als der Vater kam, schoben sie gleichgültige Reden vor die eigenen Gedanken. Sie beide wußten, daß sie keine Worte fänden für das unaussprechliche Leid.

Er war noch nie so spät ausgeblieben. Aber nicht einmal darum fragte Käthe. Sie wußte ja, woher er kam.

Der alte Mann berührte die Speisen kaum, erhob sich dann langsam vom Tische und setzte sich müde in seinen Lehnstuhl. Er vergaß seine Pfeife und ließ sie sich dann von Käthe stopfen.

„Ei! Ei!“ sagte er trübe lächelnd, „mir scheint, das kannst Du doch nicht gut, Käthel.“

Die Pfeife zog nicht, und er stellte sie neben den Stuhl hin.

„Soll ich es nochmals versuchen, Vater?“

„Ach nein, laß nur! – es schmeckt mir nicht so recht,“ und dann legte er die mageren Hände wieder ineinander und blickte schweigend vor sich hin.

Es war eine große Stille in der niederen Stube. Nur die Wanduhr tickte, und eine dicke Fliege, die das Lampenlicht wach erhalten hatte, klappte zuweilen summend an die Decke an.

„Ich bin recht müde,“ sagte der alte Mann nach einer Weile. „Laß uns zu Bette gehen!“

Sie trat zu ihm, und als sie sich bückte, um ihn zu küssen, wie sie es jeden Abend that, sank sie leise auf die Kniee und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Er hielt sie fest umschlungen, und so blieben sie lange und regten sich nicht. Eine Frage aber drängte sich der Tochter immer wieder auf die Lippen. Ganz leise sagte sie endlich:

„Vater – wie sieht er aus?“

Er seufzte tief.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_336.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2021)