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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

erwarten könnte, anstatt auf diesem schrecklichen Bahnhof mit seinem verräucherten Wartesaal in der Weihnachtsnacht!

Grete sieht die blasse Ditscha gar nicht an, legt sich ins Sofa zurück und schließt die Augen. Hinter dem Schenktisch nickt die verschlafene Büffettdame. Der Regulator über dem Sofa schwingt so leise seinen großen Messingperpendikel, als sei er eine Gespensteruhr, das Gas ist heruntergeschraubt und zischt leise, und Ditscha zermartert ihr Gehirn, wie es möglich gewesen, daß er nicht kam. Sie denkt, ob er einen Unfall gehabt hat, und malt sich eine Scene aus auf der nächtlichen Chaussee, einen zerbrochenen Wagen, einen hinausgeschleuderten Menschen, ein gestürztes Pferd. Oder, er hat sich nicht sogleich in Uechte frei machen können von der Weihnachtsfeier – natürlich!

Als sie gestern von ihm Abschied nahm, da war sein flüsterndes Wort: „Wir trennen uns heut’ zum letztenmal, Ditscha.“ – – Und sie ist ganz beruhigt. Man kommt ein paar Stunden später nach Hamburg, was schadet’s? Und sie denkt weiter – wann werden sie meinen Brief finden in Beetzen? Und wer? Und wie wird das sein? – Sie stellt sich alles vor, die mögliche günstige und die schlechte Aufnahme. Sie hätten es sich und ihr ersparen können, sie wäre gewiß auch lieber in der Beetzener Kirche getraut worden, im Beisein der Familie, als nun so allein in Helgoland. – Hin und wieder treffen ihre Augen die Uhr – „mein Gott, wie langsam die Zeit geht, und wie totmüde ich bin!“

Auf einmal schreckt sie auf – sie hat geschlafen. „Einsteigen nach Lüneburg, Harburg, Hamburg!“ Grete taumelt ebenfalls empor, noch völlig schlaftrunken stürzen sie beide nach dem Perron.

Der Zug fährt langsam an ihnen vorüber, sie mustern mit den Blicken die erleuchteten Coupés – warum erscheint er nicht am Fenster? Auf einmal schreit Grete auf. „Jesus, gnä’ Fräulein, der Herr Baron – der Herr Onkel und Fräulein Anna! Barmherzigkeit, sie sind uns nachgekommen – gnä' Fräulein – verraten Sie mich nicht!“

Und ehe die betäubte Ditscha weiß, wie ihr geschieht, ist Grete von ihrer Seite verschwunden, und sie steht allein unter einer flackernden Laterne, neben sich das Gepäck und nicht fähig, sich zu rühren, und sieht Onkel Jochen und sieht Tante Anna. Die beiden kommen eilig, ihrer nicht achtend, direkt auf sie zu, um sich nach der andern Seite des Bahnhofs zu begeben.

Ditscha fühlt, wie die Kraft, sich aufrecht zu erhalten, sie zu verlassen droht. Sie umfaßt den Kandelaber, und in diesem Augenblick wird sie von Tante Anna bemerkt.

„Jochen!“ schreit diese, „Jochen!“ Er ist schon weiter geschritten und wendet sich nun. Da sieht er in den Armen seiner Schwester die Gesuchte, blaß wie der Tod, mit halb geschlossenen Augen, und im nächsten Augenblick steht er bei ihr und faßt sie an den Schultern, und der Zorn übermannt ihn.

„Wo hast Du den Schurken?“ fragt er, „sag’s, wo ist er, auf der Stelle sag’s!“

Ditscha ist zu sich gekommen und macht sich empört von ihm los. „Ich weiß von keinem Schurken,“ antwortet sie und blickt fest in die rotunterlaufenen Augen ihres Onkels.

„Jochen!“ mahnt Tante Anna leise, „um Gotteswillen, nur hier keine Scene!“

„Ich frage Dich zum letztenmal,“ flüstert der aufgeregte Mann drohend, „wo hat sich Dein Liebster hingeflüchtet – Wahrheit – Wahrheit allein kann Dich noch retten!“

„Ich weiß es nicht – ich nicht.“

„War er nicht hier?“

„Nein, ich erwarte ihn erst.“

„So! Es wird sich finden, ob Du wahr sprichst – Anna, Du bleibst bei ihr, ich will suchen!“

Er stürzt vor den noch dastehenden Hamburger Zug und schaut in alle Coupés, er fragt die Schaffner, ob ein Herr – so und so habe er ausgesehen – eingestiegen sei. Aber der Zug ist fast ganz leer, die paar Insassen gleichen nicht Herrn von Perthien.

Er kommt atemlos zrück. „Es wird sich finden,“ droht er. „Und jetzt geht hier auf und ab, ich will Billets lösen nach Berlin. – Ihr betretet nicht den Wartesaal, es könnte ja doch jemand dort sein, der uns kennt und sich etwas wundern dürfte, daß Joachim von Kronen genötigt ist, seine Nichte in der Christnacht auf einem Bahnhof aufzulesen.“

Ditscha wankt neben Tante Anna her, aber sie kommt nicht weit, die Füße versagen ihr bald den Dienst. Sie stehen da nebeneinander an einer windigen finstern Stelle des Bahnhofgartens unter einer Akazie, an deren Stamm Ditscha sich lehnt; Tante Anna bebt vor Frost und tritt von einem Fuß auf den andern. Ditscha merkt nichts von Kälte, sie fühlt nur eins, daß sie verraten, beschimpft, vernichtet ist. Tante Anna hat eine Flut von Vorwürfen auf den Lippen, aber sie ist so aufgeregt, daß sie kaum zusammenhängend sprechen kann.

Sie stößt nur hervor: „Und Du – Du willst eine Kronen sein? Du willst zu uns gehören? Herabgewürdigt hast Du uns alle – alle. Was dachtest Du Dir eigentlich dabei? Hast Du denn keinen Funken von Religion und Moral?“

Als sie endlich im Coupé erster Klasse sitzen – Onkel Joachim hat dem Schaffner ein Trinkgeld gegeben, damit sie allein bleiben – schreit er Ditscha wieder an. „Heraus mit der Sprache, wo ist der Kerl?“

Ditscha zuckt die Achseln, sprechen kann sie nicht. Ihr Gesicht ist kalkweiß, die blauen Ringe unter den Augen ziehen sich bis auf die Wangen herab.

„Ich sage Dir – sprich!“ tobt der zornige Mann. „Wo ist er? Wer war Dein Helfershelfer? – Reinen Wein, wenn ich Dich, Deinen Ruf retten soll – reinen Wein!“

„Daß wir so etwas erleben müssen, Jochen,“ schluchzt Tante Anna, als Ditscha mit starren Augen an dem Onkel vorbeisieht, „daß eine aus unserem Hause heimlich mit einem Mann durchgeht! –“

„Durchgeht?“ donnert Jochen von Kronen, „der Lumpenkerl hat sie sitzen lassen! – Du siehst’s ja, er hat sich bedankt für so eine – eine –“

Ditscha greift mit den Händen an ihre Schläfen, ihre Blicke irren verzweiflungsvoll umher, und plötzlich springt sie auf, reißt das Fenster hernieder und beugt den Oberkörper weit hinaus, um die Thür zu öffnen – sie will sich hinausstürzen, sie will sterben, sie kann nicht weiter leben – sie –.

Joachim von Kronen hat sie im selbigen Augenblick um den Leib gefaßt, sie zurückgerissen und auf den Sitz geschleudert. Die Thür ist offen, der kalte Wind und einzelne Schneeflocken dringen in das Coupé.

Sein Gesicht ist erdfahl geworden; seine Augen sehen mit wahnsinniger Angst auf das blasse, leblose Antlitz des jungen Mädchens. „Ditscha! Ditscha!“ ruft er, „sei doch vernünftig! Kannst Dir doch denken, daß ich rasend bin, über Deine Dummheit. – Wach’ doch auf, Ditscha – wach’ doch auf!“

Aber das Mädchen hört nicht, sie ist ohnmächtig geworden.




Jahre sind dahingeschwunden.

Im Schloßgarten von Beetzen blühen die Linden. Auf der Terrasse des Herrenhauses sitzt Ditscha, neben ihr steht der Tisch, auf dem die unberührte wappengeschmückte Tasse des Hausherrn wartet, auch ein Kindertäßchen ist da und ihre eigene; frische Semmeln, Butter und Honig vervollständigen das Vesperbrot.

Ein paar Wespen summen darüber. Es ist sehr warm und am tiefblauen Himmel türmen sich weiße silberglänzende Wolken empor, ein echter Sommernachmittag. Auf dem Kiesweg ziehen sich frische Räderspuren hin. Die Thüre nach dem Speisesaal steht offen und man hört die große Standuhr drinnen schlagen – halb vier.

Ditscha läßt ihre Arbeit ruhen, legt die Hände in den Schoß, den Kopf zurück und schließt die Augen. Eine halbe Stunde noch, ehe Onkel Jochen und der Kleine erscheinen werden. Sie ist in tiefer Trauer; Ditscha ist überhaupt all’ die Jahre her, und es sind ihrer sechs, nicht aus der Trauer herausgekommen. Sie denkt eben darüber nach, als sich die helle Stickerei in dem Sonnenstrahl, der langsam zu ihr herübergeglitten ist, förmlich blendend von dem tiefen Schwarz ihres Gewandes abhebt.

Zuerst, gleich damals, als sie die große Thorheit ihres Lebens beging, starb Tante Klementine. – Ueber Ditschas Antlitz, das sich wenig verändert hat bis auf einen wehen Zug um den Mund, der ihm etwas Stilles, Ernstes giebt, fliegt bei dieser Erinnerung eine leichte Blässe. Sie gesteht sich ehrlich, daß sie schuld ist an dem raschen Tod der Kranken, obgleich man es ihr hat ausreden wollen. O, Ditscha hat furchtbare Zeiten erlebt, sie kann nicht darüber nachdenken, ohne das ganze Elend, den ganzen Schimpf der damaligen Lage immer wieder zu empfinden. Onkel Joachim hat seit jenem Augenblick im Coupé zwar niemals wieder ein Wort mit ihr über das Begebnis geredet, hat ihrem Vater keine

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