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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Hans von Perthien ist bereits um elf Uhr auf dem Bahnhof in Bützow. Er hat dem Herrn Domänenrat natürlich vorgelogen, daß er um diese Zeit mit dem Magdeburger Zug reise. Die Stunde des Wartens dort wird er ja überstehen; zusammenzureisen mit Ditscha zu so früher Tageszeit, wäre nicht ratsam gewesen. Auch mußte er noch den „Bescherungsschwindel“ in Uechte mit erleben, eine „tolle Geschichte“, weil nicht mehr und nicht weniger als dreizehn Enkelkinder des domänenrätlichen Ehepaares dabei sind, zu denen vier verheiratete Töchter nebst Schwiegersöhnen gehören. Natürlich war bei der Feierlichkeit sämtlicher üblicher „Klimbim“, als Singen, Weihnachtsmannbeten und kolossale Aufregung, ausgiebig vertreten. Er hat eine sehr schöne Meerschaumspitze mit Bernsteinmundstück und Cigarren bekommen, ein immerhin ganz acceptables Präsent, meint er, während er sich im völlig leeren Wartezimmer herumdrücken muß, in welchem es nach sauerm Bier riecht und kalt und ungemütlich ist.

Er hat sich ein Glas Punsch bringen lassen und mit der Kellnerin ein Gespräch angeknüpft. Das, was er vorhat, regt ihn nicht im mindesten auf, die Beetzener würden schon sorgen, daß die Geschichte glatt abgeht, bis Helgoland braucht man wahrscheinlich gar nicht erst zu gondeln. Morgen wird man Ditscha vermissen, ihren Brief finden, schleunigst hinterherreisen, und dann steht nach drei bis vier Tagen die Verlobungsanzeige in der „Kreuzzeitung“.

Er fragt das verdrießliche strohblonde Geschöpf, was sie zu Weihnacht bekommen habe, und was es Neues giebt. Aber sie ist nicht besonders aufgelegt und verschwindet nach ein paar einsilbigen Antworten wieder in das hinter dem Büffett befindliche Zimmer. Die Petroleumlampe qualmt, der Ofen raucht, es ist nicht mehr zum Aushalten.

Hans von Perthien beschließt, draußen auf und ab zu gehen. Er steht ein Weilchen vor dem erleuchteten Fenster des Telegraphenbureaus still. Bützow hat Nachtdienst; das Gut eines bekannten Staatsmannes liegt dort in der Nähe, und dieser ist dafür eingetreten.

Der Apparat spielt, der bedeutungsvolle Papierstreifen wickelt sich ab unter den Händen des jungen Beamten. Wem mögen die Zeichen gelten? Was haben sie zu bedeuten? – Plötzlich ruft der Mann nach dem Hintergrund des Zimmers gewendet. „Ein Eilbote – dringend – nach Beetzen!“

Der stellvertretende Inspektor, der im Nebenzimmer auf dem Sofa geschlafen hat, kommt herein. Der Bote steht schon da mit nichts weniger als erfreutem Gesicht. „Anderthalb Stunden in der Winternacht, Schwerenot!“ murmelt er. Hans von Perthien kann sogar dieses Murmeln verstehen, denn die Luftscheibe des Fensters ist halb geöffnet.

Jetzt sagt der Beamte lachend. „Man zu, Claussen, da setzt’s ein fettes Trinkgeld ab, das ist ’was Gutes. Oder meinen Sie nicht, daß Sie sich auch freuten, wenn Sie so’n Stammschloß hätten wie Beetzen und es wäre endlich ein Erbe da?“

Hans von Perthien steht wie angedonnert. Er sieht, wie die Depesche ausgefertigt, wie sie dem Boten übergeben wird und wie dieser das Zimmer verläßt. Er lehnt wie betäubt an dem Gebäude, hat den Hut abgenommen und fährt sich über die Stirn.

Was war denn das? Beetzen – ein Erbe? Ditscha sollte nicht – – alle Hagel! Gewißheit – Gewißheit um jeden Preis! Aber wo sie erfahren?

Da kommt ihm der Zufall wieder zu Hilfe. Der Inspektor und der Telegraphenbeamte unterhalten sich über den Fall weiter, und der erstere, der ein jovialer Herr ist, meint: „Na, da sinkt die hübsche Baroneß Kronen bedeutend im Preise. Hätt’ mancher gern die Kleine gehabt, wenn – Beetzen daran hängt. Wird auch nicht allzu freudig überrascht sein, ein Brüderl zu Weihnacht zu kriegen.“ Dann lachen sie beide.

„Se könn’ jetzt das Billet bekommen, Herr, de Schalter is apen,“ sagt plötzlich zu ihm der Mann, dem er vorhin seinen Koffer übergeben hat.

„Schön! Wann geht der Zug?“

„In eine Viertelstünn.“

„Nach Magdeburg?“

„Nee! Ich denk’, Se wölln na Hamborg, Herr?“

„Nach Hamburg? Blech! Nach Magdeburg will ich!“

„Ja, dann hev ick dat falsch verstahn. Nach Magdeborg, da geiht nu aberst lang kein, oder Se mötn jetzt mit’n Gütertog fahren, da is ’n Wagen drütter Klass’ an.“

„Nun denn, hinein zum Teufel in den Güterzug!“ sagt Hans von Perthien. „Holen Sie mir ein Billet und besorgen Sie den Koffer. Wann kommt denn dieser Zug?“

„In tein Minuten, Herr.“

„Schön,“ sägt Hans von Perthien. Und nach zehn Minuten sitzt er in dem völlig leeren Personenwagen des Güterzuges und zündet sich eine Cigarre an. „Ei, du Donnerwetter,“ sagt er halblaut, „das hat gerad’ noch geklappt! I der Deibel, wie leicht man doch hätt’ reinfallen können! Ditscha ohne Beetzen?“ – – Er pfeift vor sich hin – „Scheußlich, nun sitzt sie da in dem öden Bahnhof und wartet – armes kleines Mädchen! Kann ihr aber nicht helfen, muß wieder heim, werde ihr schreiben von Berlin aus – oder auch nicht – und dem Calwerwisch auch, der mich nun ebenfalls loswird. Ein herziges Käferl ist sie, aber – hungern mit ihr? Der Deibel! Glück muß ein junger Mann haben.“ Und er nimmt die Cigarre, bläst etwas Rauch aus, führt ihn mit der Hand zur Nase und nickt befriedigt – „nicht übles Kraut, das!“

Ditscha sitzt indes geduldig im Wartesaal der Kreuzungssation, neben ihr Grete.

Vor Grete, die in einem eleganten Wintermantel, Pelzboa und Federhut prangt, stehen die Reste eines Abendessens; sie trinkt eben noch den letzten Schluck Bier aus, setzt das Seidel klappernd auf den Tisch und sagt: „Nun noch zehn Minuten, dann kommt ‚Er‘! – Was ist so’n Warten doch langweilig, noch dazu Weihnachten; es tröstet mich nur, daß noch mehr Leut’ unterwegs sind, die den Christbaum verpassen.“

„Du wärst lieber daheim geblieben, Grete? – Es thut mir so leid,“ antwortet Ditscha matt, die den Schleier nicht zurückgenmmen und sich mit dem Rücken nach dem Gasleuchter gesetzt hat.

„O je! Keine Spur, gnä’ Fräulein; nee – so ’was!“

„Aber Dein Bräutigam?“

„Der amüsiert sich schon derweil in Bützow. Die Eltern denken, wir sind beide bei seiner Tante in Magdeburg, die uns ’mal ’was vermachen will – ’s ist zum Totlachen! Na, wenn sie dies wüßten, die Alten – o je! – Ueberhaupt, gnä’ Fräulein, das müssen Sie mir aber versprechen, wie’s auch kommt, daß Sie mich nicht verraten bei der Herrschaft, sonst ist für meine Eltern das letzte Brot auf Beetzen gebacken – nicht wahr, gnä’ Fräulein?“

Ditscha seufzt. „Gewiß nicht, Grete!“

„Einsteigen nach Lüneburg, Harburg, Hamburg!“ schreit der schlaftrunkene Portier.

Ditscha fährt empor und greift nach ihrer Tasche, aber sie fühlt, wie sie wankt, und stützt sich zitternd auf einen Stuhl.

Grete spricht ihr Mut zu und ergreift die halb Ohnmächtige beim Arm, um sie hinaus zu führen. Der Zug braust eben herein. Grete mustert alle Coupés, eine Menge Leute steigt aus, um den Hamburger Zug zu erreichen; Unmassen von Gepäck liegen plötzlich auf dem Perron.

„Jenseit des Gebäudes Abfahrt nach Hamburg!“ schreit ein Beamter, Grete hat Ditscha stehen lassen und schiebt sich suchend durch die Menge, Hans von Perthien ist nicht da! Sie schreit Ditscha etwas zu und läuft nach dem Hamburger Zug – er kann ja geglaubt haben, sie sind schon darin. Ditscha folgt ihr, mit einem wahnsinnigen Herzklopfen und einem Gefühl, als müsse sich die Erde vor ihr aufthun, wenn sie seiner ansichtig werde, und doch sehnt sie sich in diesem Augenblick nach ihm, als ob sie ihn wirklich liebe – sie weiß ja, die Brücke hinter ihr ist abgebrochen, sie hat nur noch ihn auf der ganzen weiten Welt.

Grete kommt atemlos ihr entgegen. „Was sollen wir thun – er ist nicht gekommen!“

„Nicht mit ge – –“

„Nein, gnä’ Fräulein – hat jedenfalls den Zug verpaßt. Eilen Sie sich doch ein bißchen, die Coupés werden schon geschlossen.“

„Ich fahre nicht ohne ihn,“ erklärt Ditscha und wendet sich dem Hause zu.

„Aber – du große Güte – wie – was? Er ist doch gewiß im nächsten Zuge!“

„Ich gehe nicht ohne ihn nach Hamburg, wir warten hier,“ sagt Ditscha, und sie wendet sich an einen Beamten. „Wann kommt der nächste Zug von Bützow?“

„Vier Uhr fünfzig,“ antwortet der Mann, und Ditscha geht gelassen nach dem Wartesaal zurück, gefolgt von der mißvergnügt dreinblickenden Grete. Als ob man den unpünktlichen Herrn Bräutigam – schöner Bräutigam, ihrer dürfte sich das nicht erlauben – nicht auch mit aller Bequemlichkeit in einem Hamburger Hotel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_326.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)