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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„O, schweig – schweig!“ rief Käthe leise und zitternd, und ein kurzes Schluchzen brach ihr Wort ab.

Ein tiefes, verwirrendes Mitleid erfaßte ihn.

„In dieser Stunde ist mir, als komme das alles auf mich,“ sagte er. „Alles wie ein Vorwurf! – Du sagst es nicht, Käthe; aber so steht sie jetzt vor mir, die ganze Zeit – sie klagt mich an, daß ich gefehlt habe an Dir. Großer Gott, wie gefehlt! – Wie soll ich Dir den Schmerz nennen, der größer ist, als ich je auszusprechen vermag –?“

Auch in seinen Augen brannte es, und seine starken Hände zitterten.

„Willst Du mir kein Wort sagen, Käthe? Schau, mir möchte sonst immer dünken, es liegt kein Segen auf uns, auf Gusti und mir!“

Sie bebte zusammen.

„O, laß mich, Hubert, laß mich! – Kein Vorwurf! Nur schweigen laß mich – und allein sein!“

Sie erhob sich langsam, und auch er stand auf. Er sah zu ihr in schmerzlich gespannter Erwartung. Aber er suchte vergebens ihrem Blick zu begegnen, der ihm unter den langen Wimpern scheu auswich, um die Qual ihres Herzens zu verbergen.

„Geh’ nicht so!“ bat er flehend und griff nach ihrer Hand. „Laß sie mir ein wenig – und hör’, Käthe – küß’ mich eimal noch!“

Sie zog ihre Hand aus der seinigen und machte einen Schritt von ihm fort auf den Weg. Sie hielt den Kopf immer tief gesenkt, und ihre Arme hingen schlaff herab.

„Nur noch einmal!“ sagte Hubert wieder. „Damit ich weiß, daß Du mir vergiebst! Wie in der alten Zeit – so, wie Bruder und Schwester. – O, küß’ mich noch einmal, Käthe!“

Sie wandte sich auf den Weg.

„Nein – ich kann es nicht –“ sagte sie leise und stockend. „Ich hatt’ es anders gemeint - der Kuß ist heilig -“

Und langsam ging sie dem Hause zu, ganz knapp an den Johannisbeersträuchern, die ihr Kleid streiften, und fuhr ab und zu mechanisch mit der Hand über die feinen Zweiglein. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, als prüfte sie die Beeren, die wie Blutstropfen zwischen den Blättern schimmerten.

Er stand regungslos, und seine Blicke hingen an ihrer schlanken Gestalt, als müßte er sie für ewig so im Gedächtnisse festhalten, die schwarzen, um den Kopf gelegten Zöpfe, das verschossene Sammetbändchen am Nacken, das verwaschene, rosagestreifte Leinenkleid, unter dessen Saume der Fuß bei jedem Schritte sichtbar wurde. Die Sonne lag auf ihrem Scheitel, daß ihr Haar glänzte. Und noch nie war ihm ihre ganze Gestalt, ihre Haltung so ruhig, so einfach und so edel erschienen. Es war, als ob auch in der Schlichtheit ihres Gewandes etwas läge, das ihn rührte. Heiße Thränen stiegen in ihm auf.

„Käthe!“ rief er noch einmal.

Sie wandte sich nicht um. Nur laugsamer wurde ihr Schritt, als zögerte ihr Fuß, sie fortzuführen von einem Stück ihres Lebens. Und so trat sie aus dem Sonnenschein in den Schatten des Hauses und entschwand unter der Thüre seinem feuchten Blick.

Er stand noch eine Weile wie verloren und strich mit der Hand über die Runzeln der verwitterten alten Tischplatte.

Und dann ging auch er langsam den Weg hinunter und mit gesenkten Blicken durch den Flur aus dem Hause, als ob er sich scheute, den Abschied zu denken. –

Noch eine schwere Stunde schlug für Käthe, als Gusti kam. Sie weinten beide. Die eine vor seliger Freude und die andere, weil ihr das Herz brach.

Und eine unsägliche Trauer bemächtigte sich Käthes, ein bodenloser Schmerz, daß sie es war, die einen Schatten warf über die beiden, daß sie es war, die einen Wermutstropfen in ihr Glück mischen sollte. In Augenblicken sehnte sie sich, Hubert ein Wort sagen zu können, und gleichzeitig schnitt ihr Elend schon das bloß gedachte Wort entzwei.

Sie beugte sich tiefer unter dem Griff des Schicksals. Ihr Wesen ward ein völlig andres. In kalte Nacht begraben fiel alles, was sie Teures geträumt, und wie mechanisch stand und ging und schaffte sie an den Arbeiten des Tages.

Sie sah ihn auch wieder, er mußte ja kommen. Sie sprachen mitsammen, fast als ob nichts ihre Wege getrennt hätte, die so lange nebeneinander gegangen waren. Sie zwang sich zum Gleichmut und zur Rühe, ja zu einer freundlichen Rede, die fast so klang, wie sie früher zu ihm gesprochen. Aber etwas Eisiges kam in ihr Wesen, etwas Verloschenes, Totes.

Mit aller Kraft ihrer Seele mühte sie sich ab, zu verdecken, wie ihr Leben zusammenbrach. Niemaud sollte es erfahren.

Einer aber kannte sie ganz genau und wußte alles, auch ohne daß sie ein Wort gesprochen: ihr alter Vater. Er sah, wie verkümmert sein Herzblatt aussah, und wußte, was sie stumm in sich trug.

Und so begann ein Spiel der Täuschung zwischen den beiden. Keines wollte dem andern seine Gedanken verraten, keines sich schwach zeigen.

Manchmal war es der süßeste Trost für sie, dieses stumme Verständnis des Vaters. Und dann wieder wurde ihr Schmerz nur größer daran, zehnfach und hundertfach.

Sie konnte den stillen traurigen Blick in seinen Augen oft nicht vertragen. Dann bemühte sie sich in ihrem Wesen, ihm Unrecht zu geben, ihn irrezuführen. Aber eine unendliche Müdigkeit kam damit über sie, in welcher ihr Herz erstarrte.

Und ein Gefühl trostloser Einsamkeit spannte sich über ihr Leben aus.

Sie suchte ihm zu entfliehen. Sie machte weite Wege über die Heide, durch die Felder. Aber der blitzende Sonnenschein vertiefte bloß die Schatten in ihr und das tausendfältige Leben der Natur machte ihr die regungslose Leere im eigenen Herzen bewußt.

Viel mehr Frieden fand sie in der nahen Kirche. Dort saß sie eines Abends lange still in einer der leeren Bänke hinter der Säule. Kein Laut regte sich. Das Abendlicht fiel durch die hohen schmalen Fenster herein, und dämmernd lag das Kirchenschiff da. Die Ruhe that ihr wohl. Sie saß regungslos da, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte vor sich hin auf die Mutter Gottes, die sich vom Altar zu neigen schien. Ein Rest von Tageslicht schwebte um das schöne milde Frauenantlitz wie eine Aureole. Das bleiche Angesicht übte einen seltsamen Zauber auf Käthe aus und bannte ihren Blick.

Seither kam sie öfter dorthin, gegen Abend, wenn die Kirche leer und still war. Sie saß manchmal lange da, am äußersten Ende der Bank. Und wenn sie nach Hause kehrte, nahm sie eine gewisse Beruhigung mit sich, als wären ihre Gedanken in etwas Großem und Allgemeinem aufgegangen und hätten darin einen Halt gefunden.

So kam ihr äußeres Wesen beinahe wieder in die frühere Haltung, und es gelang ihr, die Erschütterung, die sie bis in die Tiefe ergriffen hatte, wie etwas der Welt Fremdes zu verdecken. Als hätte sich eine verborgene glimmende Lohe nur das eine Mal in aufbrechenden Flammen verraten müssen und wäre nun wieder von der Kraft ihres Herzens niedergehalten und von dem Staub am Alltagswege erstickt.

Gegen die schmerzliche Empfindung, die Hubert mitten in seinem Glückstraum heimgesucht hatte, stritt die andere an, die er selig im Herzen trug, und die Sorge um Käthe, die ihm manche Stunde schwer und nachdenklich gemacht hatte, beruhigte sich daran.

Es war ja nicht möglich, daß zum Abschluß eines ganzen Jugendlebens voll schlichten Glückes sich der Kreis lösen sollte, den so viele Jahre mit ihren tausenderlei treulich geteilten Empfindungen um sie geschlossen hatten. Er konnte ja doch nicht mit einem Male verzichten auf das Bewußtsein, an Käthe eine liebevolle Schwester zu haben.

Vor der Zuversicht, mit der er lebensfroh seine Gedanken an die Zukunft spann, schwand wohl mit der Zeit, wenn er an sie dachte, das Schmerzliche, das ihre Begegnung damals zurückgelassen. Aber ein bitterer Bodensatz war dennoch geblieben, und manchmal stieg ein Nachklang jener Stunde plötzlich vor ihm auf, wie man in freudiger Zeit oft einen Mangel klarer sieht und gegen eine Lücke empfindlicher wird.

Einmal, im Wald, flog ihn der Gedanke an: es war ja doch ein Abschied an jenem Mittag unter dem Kirschbaum – ein Abschied von einem Herzen, im Augenblick, wo er es erkannt hatte. Wider Willen suchte sein Gedächtnis da und dort ein Licht aus der verblassenden Vergangenheit. Welch ein verborgenes Leben liegt in uns allen! Sie hat ihn geliebt, vielleicht jahrelang, hat jahrelang die aufkeimende Neigung still geborgen, ihm ihr Sinnen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_322.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2020)