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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Neuzeit wurde das Zeugnis Hysterischer vor Gericht für völlig Unschuldige verhängnisvoll.

Erst in dem letzten Jahrzehnt ist es den Aerzten gelungen, den Zustand der Hysterischen zu verstehen, das Wesen der Krankheit zu enthüllen, und möglich war dies erst, nachdem man die Macht der Vorstellung und deren tiefen Einfluß auf die Verrichtungen und Empfindungen des Körpers durch hypnotische Versuche kennengelernt hat. Alle jene wunderbaren Symptome, die bei Hysterischen vorkommen, lassen sich zwanglos durch die Suggestion in hypnotischem Schlafe erzeugen, und so ist man allmählich zu der Ansicht gelangt, daß die Hysterie ihrem Wesen nach eine psychologische Krankheit ist. Ihre Grundlage ist ein geschwächtes, überempfindliches Nervensystem, und dieses macht den Körper zum Spiel der Eindrücke, welche die Kranken erhalten, und zum Spiel der Vorstellungen, die von außen auf sie eindringen oder selbstthätig in ihrem Geiste entstehen.

Treffend hat neuerdings J. P. Möbius, einer der besten Kenner der Hysterie, geäußert: „Die der Hysterie wesentliche Veränderung besteht darin, daß vorübergehend oder dauernd der geistige Zustand des Hysterischen dem des Hypnotisierten gleicht, d. h. jener reagiert, ohne hypnotisiert zu sein, wie dieser. Ebenso wie alle im hypnotischen Zustande beobachteten Erscheinungen sind alle Erscheinungen bei der Hysterie Wirkungen der Suggestion, d. h. des Vorstellens.“

Auf Grund dieser Erkenntnis wird es jedem klar, wie zu einer Zeit, da die Lehre vom Teufel und seinen Beziehungen zu Menschen mit größtem Nachdruck verbreitet wurde, der Teufel in den Träumen und Hallucinationen der Hysterischen eine hervorragende Rolle spielen mußte. Die armen Kranken glaubten, ihre Wahnvorstellungen wirklich erlebt zu haben, und versicherten mit voller Ueberzeugungstreue, den Teufel gesehen, mit ihm verkehrt und an seinen Orgien teilgenommen zu haben. Diese Erlebnisse erzählten sie umständlich dem Richter auch vor Anwendung der Folter und die Geschichten klangen sich immer ähnlich; denn die Kranken schöpften ihre Selbstsuggestionen aus der festgefügten und volkstümlich gewordenen Lehre von den Beziehungen des Teufels zu den Hexen, von welcher auch die Richter befangen waren.

Das Hexenwesen ist jedoch lange nicht das ausschließliche Gebiet, auf welchem die Suggestionskrankheit Hysterie den Teufelsaberglauben nähren half. Der Teufel schließt mit der Hexe den Bund, und sie verfällt seiner Macht mit ihrer Einwilligung; der Böse kann aber nach der alten Teufelslehre, ohne den Menschen danach zu fragen, in denselben hineinfahren, sich seiner wider Willen bemächtigen, der Unglückliche ist alsdann ein Besessener. Der Glaube, daß Dämonen in den Menschen hineinfahren können, ist uralt, es hat aber in Europa zu keiner Zeit so viele Besessene gegeben wie im 17. Jahrhundert. Damals war die Besessenheit geradezu epidemisch geworden. Man könnte sie als eine Abart des Hexenwahns betrachten, und manches spricht in der That dafür. Jedenfalls war es weniger gefährlich, den Besessenen als den Hexenmeister zu spielen, denn während Hexenmeister und Hexen hingerichtet wurden, trieb man dem Besessenen den Teufel aus. Zu wahren Epidemien gestaltete sich die Besessenheit namentlich in Frauenklöstern. Fühlte sich eine der Nonnen besessen, so folgten bald andere ihrem Beispiel. Die Scenen, die sich dann abspielten, waren geradezu schauerlich. Die Besessenen nannten den Namen des Teufels, der sich ihrer bemächtigt hatte; sein Name war nicht weltlich, wie dies zumeist bei den verführten Hexen der Fall war, sondern der theologischen Teufelslehre entlehnt, er hieß Uriel, Behemoth, Dagon, Magog, Asmodeus, Leviathan oder ähnlich; die Auswahl war groß, bestand doch das Höllenheer nach Weiers Offenbarung aus 72 Höllenfürsten und 7 405 928 gewöhnlichen Teufeln. Durch den Mund der Besessenen lästerte der Teufel Gott und die Heiligen; dann versetzte er ihren Körper in die furchtbarsten Verzückungen. Die Besessene wurde von Krämpfen befallen, Schaum trat vor ihren Mund; ihr Leib krümmte sich, daß die Fersen den Nacken oder der Kopf die Fußspitzen erreichte, oder ihr Leib wurde in gewaltigen Zuckungen emporgeschleudert, daß er mehrere Fuß hoch emporschnellte, zurückfiel zur Erde und wieder emporprallte, und dies wiederholte sich bis zwanzigmal hintereinander; andere Besessene rollten sich hin und her und schwarz und geschwollen trat die Zunge vor ihren Mund. Namentlich während der Teufelsaustreibung ereigneten sich solche Anfälle, die von den Zeugen ganz genau beschrieben und auch naturgetreu abgebildet wurden. Fürwahr, tief erschütternd war der Anblick solcher Vorgänge und teuflisch mußte die Macht erscheinen, die in den Unglücklichen wütete!

Zwei Jahrhunderte sind seit der Blütezeit der Besessenheit verflossen und Besessene leben nach wie vor unter uns. In schweren Fällen der Hysterie werden Krämpfe, wie die oben geschilderten, erzeugt, und die Aerzte haben in Nervenheilanstalten vollauf Gelegenheit, sie zu beobachten. Ihr Anblick ist in der That tief erschütternd, und beklemmend ist die Flucht der Ausdrücke, in denen das Gesicht der Kranken die Wahngebilde widerspiegelt, die vor ihren Augen vorüberwallen oder ihr Gehör erfüllen.

Manchmal, aber sehr selten, schreckt und ängstigt noch heute die Teufelsgestalt ein krankes Gemüt, das im Glauben an böse Geister großgezogen wurde. Im allgemeinen hat der Teufel seine Macht über die Menschheit, soweit sie aufgeklärt ist, völlig eingebüßt, und es sind Hallucinationen rein weltlichen Inhalts, die während der Anfälle die Kranken plagen. Diese stärksten Ausbrüche der hysterischen Krämpfe hat man mit dem Namen Hystero-Epilepsie benannt, obwohl sie mit der wirklichen Epilepsie nichts gemeinsam haben. Sie können auch epidemisch werden, wie die Besessenheit es war in den Frauenklöstern; wird auf der Abteilung eines Krankenhauses eine Hysterische von einem solchen Anfall betroffen, so kommt es wohl vor, daß andere Hysterische, die in demselben Saale untergebracht sind, der Reihe nach dieselben Erscheinungen zeigen und der Saal plötzlich einer Pulverlunte gleicht, die ein Funken entzündet hat.

Aber der Besuch eines solchen Krankenhauses bietet uns nicht allein traurige Eindrücke, im Gegenteil, er erfüllt uns mit erhebender Zuversicht. Vor zweihundert Jahren war es, da hatten die besessenen Ursulinerinnen von Loudun den Geistlichen Urbain Grandier beschuldigt, daß er nachts durch die Mauern in das Kloster eindringe, um teuflische Künste zu treiben. Man suchte den Nonnen den Teufel auszutreiben und nahm den Geistlichen ins Verhör; er hatte erbitterte Feinde, denn dem Gerichtshofe wurde sogar ein Brief, anscheinend in seiner Handschrift, übergeben, in dem er sich dem Teufel verschrieb, und dieser Brief wird noch heute als Kuriosum aufbewahrt. Grandier wurde als Hexenmeister gefoltert und verbrannt. Neulich hat in einem unserer größten Krankenhäuser eine Hysterische zwei Aerzte beschuldigt, daß sie nachts durch die Mauern in die Krankensäle dringen, aber es kam zu keinem Prozeß. Die Aerzte verziehen der Armen, die nicht wußte, was sie that und sprach, und pflegten sie, bis sie genas. Das ist eben die tröstliche Kunde, die uns von der modernen Wissenschaft verkündet wird, daß die Hysterie ein heilbares Leiden ist, und noch wichtiger und beruhigender ist die Erkenntnis, daß sie verhütbar ist.

Nur wer sich nicht zu beherrschen vermag, wer keine Schulung des Geistes durchgemacht hat, wer nicht zu denken versteht und im Fühlen und Empfinden aufgeht, wird zu einem willenlosen Spiel der auf ihn eindringenden Vorstellungen, wird zum Sklaven der Suggestion. Je vernünftiger der Mensch, desto gefeiter ist er gegen diese seelische Krankheit.

Eins aber lehrt uns noch dieser Abschnitt der Geschichte des Aberglaubens. Die Kulturmenschheit hat sich von dem Hexenwahn befreit, ohne die Macht der Vorstellung auf den Körper, ohne die Suggestion und ohne das Wesen der Hysterie zu kennen; die Macht der Aufklärung hat hingereicht, um diese Wahngebilde zu zerstreuen. Und wunderbar ist das nicht, denn der schwache Kranke schöpft seine Suggestionen nur aus der Umgebung, in der er sich befindet, deren Luft er atmet. Wo der Teufelsglaube unter den Gesunden geschwunden ist, giebt es heutzutage weder Hexen noch Besessene. Halten wir also fest an den Errungenschaften der Aufklärung und treten wir unverzagt allen mystischen Regungen entgegen, die in der Neuzeit ihr Haupt erheben möchten, weil sie natürliche Vorgänge nicht zu deuten verstehen, wie einst die Hexenrichter und die Masse des Volkes ratlos den Erscheinungen der Hysterie gegenüberstanden und in den Kranken dem Teufel Verschriebene vermuteten.




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