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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Die Differenz der Geburtsgewichte ist natürlich zufällig; für das zweite Halbjahr, etwa von der 28. Woche ab, ist die Statistik ungenügend, da bei vielen unsrer Kinder die Wägungen etwa um diese Zeit eingestellt wurden. Man ersieht aber aus den Tabellen folgendes: es findet in den ersten Tagen ein Gewichtsverlust von rund 200 g statt – wie längst bekannt ist – und es findet in der Mitte des zweiten Halbjahres (der 36. bis 40. Woche) eine bisher unbekannte Störung des Wachstums statt. Ich bin geneigt, dieselbe der Zahnentwicklung zuzuschreiben. Abgesehen von diesen Störungen verläuft das Wachstum, wie bei den Frauenmilchkindern zu ersehen ist, in der Art, daß der tägliche Anwuchs um so kleiner wird, je mehr Zeit seit der Geburt verflossen ist, und zwar nimmt er vom 4. Tag bis zur 28. Woche in gleicher Zeit um gleichviel ab, nämlich um 2,3 g in je 28 Tagen.

Die künstlich Ernährten bleiben infolge der minder zweckmäßigen Nahrung in den ersten Lebenswochen im Gewicht zurück, bringen aber von der 16. Woche ab den Verlust durch raschere Zunahme allmählich wieder ein. Früher, als die Methoden der künstlichen Ernährung noch unvollkommener waren, erfolgte der Wiederersatz des Verlustes erheblich später. Eine Vergleichung von früher und jetzt war mir möglich, da ich mit der Sammlung statistischen Materials schon 1876 begonnen habe.

Leser, welche sich über die körperliche Entwicklung des Kindes, über Wachstum, Ernährung etc. desselben näher unterrichten wollen, erlaube ich mir auf mein eben erschienenes Buch zu verweisen „Der Stoffwechsel des Kindes von der Geburt bis zum Ende des Wachstums“ (Tübingen, H. Laupp’sche Buchhandlung). Ich habe für dasselbe nicht nur das bisher bekannte Material verarbeitet, sondern auch neue eigene Untersuchungen, welche nach 18jährigcr Dauer nunmehr zum Abschluß gelangt sind.




Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.
(2. Fortsetzung.)


Gusti ließ nicht mehr ab von dem Plane des gemeinsamen Musizierens. Hubert sträubte sich und sagte, er habe ja nie etwas Ordentliches gekonnt. Aber endlich mußte er wohl oder übel doch nachgeben, und so ging er einmal mit Käthe hinüber.

Im Anfang sangen sie bloß die alten Kinderlieder, die sie einst in der Schule gelernt hatten. Sie sangen: „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“, „Zu Mantua in Banden der treue Hofer war“ und „Die Lorelei“. Aber Gusti wollte höher hinaus und entwickelte einen wahren Kunsteifer. Hubert mußte ihr versprechen, daß er einmal etwas einstudieren komme, ganz ernstlich.

Eines Tages sah ihn Käthe über den Markt und drüben in Meiers Haus gehen. Es regte sich etwas in ihrem Herzen, das sie bisher nicht gekannt hatte, eine neidische Empfindung. Und gleich darauf überfiel sie ein Schamgefühl deswegen und dieses quälte sie noch ärger.

Abends war Hubert da, lachte und sagte, daß Gusti ganz des Teufels sei mit ihrer Musik.

Als Weihnachten herankam, wurde in Käthes Herz ein Gefühl lauter, das in den letzten Monaten unbewußt immer durch ihre Seele geflossen war, das Gefühl einer Erwartung. Aber es war nicht die süß unruhige Erwartung, die wir alle als Kinder gekannt haben, wenn wir wußten, daß der Christbaum schon im Hause war, wenn es förmlich schon ein wenig zu duften begann von Tannenharz und Weihnachtskerzlein, eine fröhliche Feststimmung sich vorbereitete und alles in und um uns wie von einem geheimnisvollen Lichte umgeben schien, von einem verheißenden Glanz der kommenden Weihnachtsfreude. Nicht das war es, vielmehr eine Spannung, die sie nicht in Worte zu kleiden wußte, eine heimliche Hoffnung und zugleich ein nagender Zweifel; die quälende Erwartung, es müsse doch einmal etwas antworten auf die Frage, die immer an ihr Herz pochte mit sehnsuchtsvollen Gedanken.

Wie jedes Jahr richtete Käthe in der Wohnstube ein kleines Bäumchen auf, und Hubert half ihr schon am Abend vorher ein paar Aepfel vergolden und die alten Nüsse in stand setzen, die immer von einer Weihnacht zur andern aufgehoben wurden. Sie scherzten und lachten dabei, und es waren selige Stunden für Käthe. Auch den alten Baumschmuck aus Flittergold und farbigem Papier holten sie hervor.

„Ja, Käthe! Da haben wir manches Stück wohl noch als Kinder zusammengekleistert! – Da! Erinnerst Du Dich an diesen kühnen Stern? Der ist von Dir – und da ist noch einer. Ein prachtvoller Komet! Der stammt von mir. Schau, schau – wie sie noch hübsch beisammen sind! Die Ketten – mir scheint, die hat Franz geschmiedet. Wir zwei aber gingen mehr aufs Kunstvolle. Die grünen Reiser an den Wänden dürfen heuer auch nicht fehlen. Morgen gehe ich und zwicke dem Garten ’was ab.“

Und so war es wieder einmal Weihnachten. Sie standen frohherzig vor dem kleinen Baum. Die Lichter knisterten und das Flittergold leuchtete. Hin und wieder rauchte es an einem Zweiglein, und ein träumerischer Weihnachtsduft erfüllte die kleine Stube. Der Vater saß in seinem Lehnstuhl und machte glückliche alte Augen.

„Daß der Franz nicht da ist! – Wie schade, daß er nicht da ist!“ wiederholte er öfter, nahm dann sein Mädchen beim Kopf und küßte es mit der schlichten Innigkeit, die für die Kinder von jeher etwas Heiliges gehabt hat an den Wendepunkten im Jahr, wenn der Vater sie ans Herz zog.

Die kleinen Bescherungen wurden immer wieder zur Hand genommen und betrachtet, und eines machte dem andern lachende und liebevolle Vorwürfe über die Unkosten, in die sich alle begeben hatten. Dann setzten sie sich an den Tisch, der ein festliches Ansehen hatte. Käthe hatte einen großen Weihnachtskuchen gebacken und Hubert mußte endlich den Glühwein mischen, wie er es immer gethan. Die Gläser dampften und sandten ihren aromatischen Duft empor. Nun plauderte man von der vergangenen Zeit. Es ist ja immer, als ob die Weihnachtskerzen alle ihr Licht anzünden würden an den süßen Erinnerungen der Vergangenheit. Und in der Erinnerung leuchten alle ihre Lichter wieder auf, und wo die rechte Weihnachtsstimmung ist, da sieht man sie alle wieder beisammen, die herrlichen lichtstrahlenden Christbäume der seligen Jugendzeit, und es ist uns, als ständen wir in einem Festsaal, unter dessen säulengetragenen Kuppeln ein ergreifender Chor erklingt, bald süß und leise wie ein Wiegenlied, bald brausend wie Gesang der Freude.

Die Lichtlein brannten still und flackernd herab. Hin und wieder mußte Käthe eines putzen. Manches brannte auch rascher nieder als die andern. Das suchte sie dann so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Aber endlich rann doch der letzte Wachstropfen davon herab und fiel auf die grünen Nadeln wie eine erstarrte Thräne; und der Lichter wurden immer weniger.

Käthe sah mit Angst darauf. Sie hätte sie so gerne fortbrennen lassen, noch lange, lange. Es war ihr, als ob sie sich nicht trennen könnte von dem brennenden Baume. Und als der letzte Docht heruntergefallen war, sagte sie: „Sollen wir nicht doch noch ein paar Kerzchen hinaufthun?“ Sie lächelte dabei und sagte es leichthin, als ob sie damit das Drängen des eigenen Wunsches verdecken wollte.

„Laß doch, Käthe,“ sagte der Vater. „Man darf nicht zwei Weihnachtsbäume machen wollen aus einem.“

„Uebers Jahr ist ja wieder Weihnacht,“ sagte Hubert.

Uebers Jahr! – Aber es gab ihr keine Ruhe. Sie suchte das längste Kerzchen aus, befestigte es ganz am Ende eines Zweiges und steckte es an. Dann setzte sie sich in das alte Sofa und sah zu, wie das Licht leise herunterbrannte. Der Docht wurde immer länger und die Flamme immer größer, je tiefer sie kam. Die Wachsthränen flossen herunten wie lebendig, und das Bäumchen flimmerte hinter der einsamen Kerze. Und Käthe blickte immer in die zuckende Flamme hinein, als hätte sie es ihr angethan.

„Vater, sieh doch zu, wie das arme kleine Stümpfchen brav ist! – Hubert, schau doch! Schau doch den Baum an, so lange es noch währt! Wie er hübsch ist, nicht wahr? – Sieh doch hin! Noch immer brennt es. – Schaut ihn doch noch einmal recht an!“

Und dann saßen sie eine Weile alle schweigend da und blickten auf das zitternde Licht und die fallenden Tropfen. Und wie es so beinahe feierlich still geworden war in ihrem kleinen Kreise, schwebte jene Mahnung von Ernst und Liebe und Rührung darüber, die uns alle einmal ergreift unter dem Weihnachtsbaum, wenn unser Herz noch nicht stumpf und eitel geworden ist im Getriebe des Lebens.

Das Kerzchen flackerte noch einmal hoch auf und erlosch.

Als Hubert fort war und sie zur Ruhe gingen, brach Käthe ein Tannenreis ab und nahm es mit sich in ihr Zimmer. Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_303.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2020)