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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

einiger nördlicher Provinzen von China) nach Wladiwostok führen. Von dort wollte sich Herr von Rengarten nach Japan einschiffen, das er gleichfalls zu Fuß zu „durchqueren“ gedachte, um dann, eine Schiffsgelegenheit benutzend, den Westen von Süd-Amerika zu erreichen, von wo er sich nach einer nunmehr festzusetzenden Reiseroute an die Ostküste der Vereinigten Staaten begeben wollte. Von dort vermittelst eines der Lloyddampfer nach Lissabon gelangt, hoffte er über Spanien, Frankreich und Deutschland spätestens im Dezember 1899 – zum Abschluß des Jahrhunderts – wieder in Riga eintreffen zu können.

Was wir anfangs bezweifelten, ist inzwischen wirklich eingetreten, Herr von Rengarten ist an die Ausführung seines kühnen Planes geschritten und die interessanten Anfänge seines wagehalsigen Spaziergangs um die Erde liegen bereits hinter ihm. Nachdem er vor seinem Aufbruche aus eigenem Antrieb sich bereit erklärt hatte, über besonders merkwürdige Erlebnisse und Eindrücke, die ihm auf seiner Wanderfahrt zustoßen würden, der „Gartenlaube“ Bericht zu erstatten, hat er uns seitdem bereits wiederholt von den Fortschritten seiner Reise Kunde gegeben und dann auch in dem nachstehenden Aufsatz einen größeren Beitrag gesandt, von welchem wir annehmen dürfen, daß ihn unsere Leser, nachdem sie von dem Unternehmen im allgemeinen Kunde erhielten, mit doppeltem Interesse begrüßen werden. Die Redaktion.


Der Kaukasus ist so voller Kontraste wie wohl kein anderes Gebiet der Erde. Man wandert durch denselben wie durch eine riesenhafte Schaubude, in der dicht aneinander gereiht so wechselvolle Bilder beisammenstehen, wie sie keine Phantasie sich bunter denken könnte. Eben noch riesenhafte Steppen, dann wilde Hochgebirge; hier Repräsentanten eines Bauernstandes, wie ihn indolenter und einfältiger kein zweites Land besitzt, dort hinter dem Pfluge eine Intelligenz, wie sie nicht einmal die Theorien moderner Utopisten für ihre Zukunftsideale in Anspruch nehmen. Russen, Deutsche, Tschechen, Letten, Esten und alle die vielen heimischen Stämme – Christen und Mohammedaner, alles bunt durch einander, und diese Fülle von Sitten, Gewohnheiten und Gebräuchen, wie sie dieses Völkergemisch erzeugen muß, überragt in großartiger Schönheit eine Landschaft, wie man sie als Gegenstück zur öden Ukraine und als Entschädigung für die Monotonie derselben sich nicht prächtiger denken kann.

Es ist wahr, daß namentlich der von mir eingeschlagene Weg dem Ostufer des Schwarzen Meeres entlang reich an mannigfachen Beschwerden ist. Ich wandere ja schon seit fünf Wochen allein, nachdem mein Begleiter in Charkow zurückgeblieben ist, und daher habe ich meinen ganzen Vorrat an Wäsche, Schreibutensilien und Proviant für mich und meinen Hund auf den Schultern allein zu schleppen; doch wenn ich mühevoll ein Gebirge erklommen habe, wenn ich hoch oben von der goldenen Sonne beschienen stehe, dann ist im Nu alle Mühe vergessen, denn immer prächtigere Bilder entrollen sich vor meinen Augen.

Auch ist das Ueberschreiten der Flüsse, die einem mitunter bis unter die Brust reichen, kein absonderliches Vergnügen zur Winterszeit. In den Bergen liegt vielfach Schnee und ihnen entstammen ja diese jetzt eiskalten Gewässer. Doch auch hier hat die Wissenschaft ein Mittel ersonnen, um bei alledem den Körper gesund und widerstandsfähig zu erhalten, und das ist der Segen der wollenen Kleidung, wie sie den Theorien des Professor Jäger entspricht. Im Freien verbrachte Nächte während eines rauhen russischen Herbstes, das Überschreiten von Flüßchen, wobei die sie bedeckende Eiskruste durchbrochen werden mußte; Kälte, Nässe und Seuchen, alles ist spurlos bis jetzt an mir vorübergegangen, und wohin ich komme, vernehme ich, daß ich trotz aller Strapazen gesund aussehe.

Nachdem ich nun die Ausläufer des Markotsch-Gebirges hinter mir gelassen hatte, galt es, die in achtzehn steilen Windungen emporstrebende Chaussee zum Michaels-Paß emporzusteigen und kurz vor dem Flüßchen Pschada nach rechts in das Gebirge einzubiegen. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, der merkwürdigen Kolonie Krinitza (auch Jerobkino, nach ihrem Gründer benannt) einen Besuch abzustatten, denn was ich über dieselbe vernommen hatte, war geeignet, mein Interesse im höchsten Grade zu erregen. Und so ließ ich mich einen etwa 35 Kilometer weiten Weg durch eine der wildesten Gegenden des Kaukasus nicht verdrießen, um diese Absicht auch auszuführen.

Doch noch ehe ich die Landstraße verließ, hatte dieselbe mich im Stich gelassen. Zeitungsnachrichten zufolge sollte sie freilich schon ganz vollendet sein, doch scheinen an mehreren sehr ausgedehnten Partien irgend welche ungünstige Umstände gewaltet zu haben, denn nicht nur, daß Ueberfahrten und Brücken mehrfach nicht vorhanden sind, selbst das allen Chausseen der Welt eigentümliche Schottermaterial fehlt recht häufig. Daher geriet ich hinter dem Michaels-Paß in ein Thal, das mit Geröll angefüllt war und nicht einmal etwas aufwies, was den Namen Weg verdiente. Durch zwei kleine Flüßchen watend, bog ich in die erste meinen Weg kreuzende Schlucht ein, die dem Stande der Sonne gemäß am Ostufer des Schwarzen Meeres ausmünden mußte.

Hier vermutete ich nämlich das Kirchdorf Beregowaja und viereinhalb Kilometer hinter demselben den Chutor (d. i. Kolonie oder Dorf) Krinitza. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn von links kommend, versperrte mir alsbald der Fluß Pschada den Weg, und ihn hatte ich, wie ich wußte, zu überschreiten, um an mein Ziel zu gelangen. An der Fähre war es zu tief, denn als ich dort ins Wasser stieg, reichte mir dasselbe sofort bis über die Hüften, daher wandte ich mich mehr nach oberhalb und hier entdeckte ich auch eine Partie, wo ich ans nächste Ufer gelangte, ohne erheblich naß zu werden.

Das Kirchdorf Beregowaja zeichnet sich durch keine besondere Wohlhabenheit aus. Die Einwohner sind ehemalige kubansche Kosaken. Was mir übrigens gleich ins Auge fiel, war ein sehr schmuckes Schulhaus, das, wie ich später hörte, sein Entstehen zum großen Teil dem benachbarten Krinitza verdankt. Auch die dort vorhandene hübsche Kirche soll auf Initiative der Kolonie erbaut worden sein.

Beregowaja rasch passierend, denn ich brannte vor Ungeduld, mein Ziel zu erreichen, schlug ich nun den Weg dahin ein, der, schmal, aber sauber gehalten, sich am Fuße des Gebirges hinwand.

Auch die Pschada floß anfänglich in der Richtung zum Gebirge fort, und schließlich nur einen Platz für die Fahrstraße freilassend, bahnte sie sich ihren Weg gerade fortlaufend ins Meer, während nach einigen hundert Schritten die Bergkette zurücktrat und in weitem Bogen ein sehr ausgedehntes Thal einrahmte. Auf einem Plateau, dicht am Meeresufer, gelangte ich endlich an einen von Heckenzäunen umringten, sehr ausgedehnten Hof, wo zwischen Bäumen sich ein halbes Dutzend sehr schmucker Häuschen vorfand. Mehrere junge Leute arbeiteten im Umkreise derselben mit Schaufel und Hacke.

Unterwegs hatten einige Personen, mit denen ich über meinen in Krinitza beabsichtigten Besuch sprach, Zweifel darüber geäußert, ob ich als Schriftsteller dort Zutritt haben würde, und nun stand ich da und wußte im Augenblick nicht, womit ich mich einführen sollte. Zuguterletzt beschloß ich denn auch, mich vorläufig nur als Reisenden zu geben und erst später meine Absicht zu bekennen und um die Erlaubnis zu bitten, über meinen Besuch und die empfangenen Eindrücke einiges an die Oeffentlichkeit zu bringen.

Mich an die mir zunächst arbeitenden jungen Leute wendend, wurde ich in zuvorkommender Weise an eines der älteren Glieder der Kolonie verwiesen. Es war ein Herr S., Absolvent eines landwirtschaftlichen und technischen Institutes. In dem Hause, wo ich ihn anzutreffen hoffte, trat ich zunächst in eine sehr umfangreiche Küche, wo mich einige schlichtgekleidete Frauen empfingen, und aus der mich ein junges Mädchen durch das allgemeine Eßzimmer in ein saalartiges Gemach führte, das ganz nach Art und Weise gewöhnlicher Bauernstuben nur Möbel in sich barg, welche roh aus ungestrichenem Holz hergestellt waren. Stühle habe ich dort überhaupt nirgends angetroffen, nur Holzbänke verschiedener Größe. Seltsam stach gegen diese schlichte Ausstattung, die näher zu beschreiben ich für zwecklos halte, ein wundervoller Flügel ab, der in einer Ecke Aufstellung gefunden hatte.

„Nehmen Sie Platz,“ sagte das junge Mädchen.

„Danke, ich kann ja auch stehend warten, bis der Wirt kommt,“ lautete meine Antwort.

Ich hatte mir damit eine Unschicklichkeit zu schulden kommen lassen, denn ich hätte mir denken sollen, daß bei einer Genossenschaft wie „Krinitza“ das Wort „Wirt“ nicht am Platz ist. Daher wunderte ich mich auch nicht im geringsten, als ich kurz zur Antwort erhielt: „Hier sind wir alle Wirte!“ – eine Versicherung, die mir die Erfüllung meiner zurückgehaltenen Bitte als schon gewährleistet erscheinen ließ, denn durch die Art und Weise, wie ich empfangen worden war, gewann ich die Ueberzeugung, daß diese guten Leute nicht nur jeden gerechten Wunsch zu erfüllen gewohnt waren, sondern auch keine Ursache hatten, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.

Jetzt trat auch Herr S. in die Stube.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_299.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2021)