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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


der Erinnerung, die den alten Weg gefunden hatte durch Sonne und Schatten ……

Sie war sich in den ersten Tagen beinahe müßig vorgekommen, wenn die alte Frau des Nachmittags darauf bestand, daß sie in den Garten hinabgehe, etwas frische Luft zu schöpfen, um die Zeit, wo die heiße Augustsonne sich tiefer neigte.

Jetzt nahm dies einen Zauber an für sie, und ehe noch der Vorwurf in ihr stark ward, daß ihre Schwäche sündhaft sei, spülten ihn die strömenden Gedanken hinweg, die die stummen Merkzeichen der Erinnerung aufsuchten und sie zusammentrugen, halb willenlos, doch mit Schmerz und liebevollem Eifer die Bilder aneinanderreihend.

An die letzten Gebüsche am Rande des Gartens stieß ein Wiesenplan, auf dem ein kleiner Bube Kühe weidete, und von der Rasenbank unter dem großen Baume, der dort stand, sah man über die Wiese und das kleine Buchenwäldchen, hinter dem in einiger Entfernung ein Kirchturm der Stadt hervorragte. Schwester Brigitte kehrte täglich zu dem stillen Platz zurück. Der kleine Hüterbube blickte manchmal aus der Ferne neugierig zu ihr herüber, oder er bekümmerte sich gar nicht um die fremde Erscheinung, spielte im Gras, rief seinen Tieren zu und stieß hin und wieder einen fröhlichen Jauchzer aus. Eigentlich fühlte er sich ein bißchen verdrängt, denn wenn niemand da war, lungerte er gern auf der Bank, spielte mit seinen Steinchen darauf und hatte im stillen von dem Platze Besitz ergriffen. Die Schwester fand manchmal die Spuren seines Spieles, bunte Steine, Holzstäbchen oder vertrocknete Blumen herum verstreut. Einmal hatte er gerade vor der Bank ein kleines Grabhügelein aufgerichtet, Leberblumen und Berberitzen staken darin und neigten sich welk zu Boden. Sie blickte lange starr auf den kleinen Erdhaufen nieder, bei dem das Kind an den Tod gedacht hatte.

Und wieder fluteten die Erinnerungen über sie.

Stille Tränen liefen über ihre Wangen. Sie verlangte nicht, sie zu hemmen.

So saß sie oft regungslos da, ein armes einsames Menschenkind, das sich demütig unter seinem Schicksal beugte.

Und so wie die vergangenen Jahre in ihrem Leben gestanden hatten, tauchten sie wieder empor, durch einen Zufall geweckt, als sei ihr geboten, sie nochmals durchzuleben, ihre Kraft daran zu prüfen.


2.

In dem kleinen dreifensterigen Hause, das den Winkel des Marktplatzes abstumpfte, spielte sich ein einfaches Familienleben ab. Das einzige große Ereignis, das bisher darüber hinweggegangen, der Tod der Mutter, lag mehrere Jahre zurück. Damals war der alte Lieutenant, wie man Herrn Krüger von seinem ehemaligen Stande her immer nannte, freilich in rechte Verlegenheit gekommen, denn die zwei Kinder waren bloß halbwüchsig, als der Tod die Hand der Mutter von ihnen wegzog. Aber es kam doch wider Erwarten gut. Käthe war ein verständiges Ding, das sich bald mit aller Würde in die Rolle einer kleinen Hausfrau fand, und Franz wollte schon bald auf eigenen Füßen stehen. Die Base guckte ab und zu in das Hauswesen herein, und so fand man sich allmählich in dem neuen Geleise zurecht, weil es schon nicht anders hatte sein sollen. Mit stiller Dankbarkeit gedachte der alte Mann oft der Toten, als er sah, welchen Segen ihr tüchtiges Wesen zurückgelassen. So konnte er nun ruhig an seinem Tische sitzen und der überwundene Schmerz ließ keine dauernde Sorge als Schatten hinter sich.

Käthes Bruder hatte einen Freund, den Sohn eines alten Kriegskameraden des Vaters, eine Waise, für den Herr Krüger aus treu und praktisch verstandener Freundschaft mit seinen einfachen Kräften sorgte, bis er heranwuchs. Er war mindestens zu allen Mahlzeiten im Hause, und obwohl die beiden Knaben ein paar Jahre älter waren als Käthe, stand sie doch noch zu ihnen und im gemeinsamen Umkreise von Interessen und Spielen. Dies um so mehr, als das einzige Mädchen, mit dem sie Umgang gehabt, Kaufmanns Gusti, drüben von der anderen Seite des Marktes, früh weggekommen war. Die Base erzählte, daß die neue Stiefmutter das Kind nicht leiden mochte, andere sagten, sie solle draußen erzogen werden, weil der Vater ein feines Fräulein aus ihr machen wollte. So schloß sich Käthe an die Knaben an, und da sie sich so nahe gestanden hatten, so weit ihre Erinnerung überhaupt zurückreichte, war auch Hubert nie anderes für sie gewesen als der eigene Bruder. Und der lebhafte gutmütige Junge mit dem blonden Krauskopf war von jeher ihr getreuer Kamerad. Die beiden behandelten sie im allgemeinen mit einem gewissen ritterlichen Respekt, wie ihn glückliche Anlage manchmal in kindlichen Herzen echter sein läßt als in erwachsenen. Aber hin und wieder, an den Sonntagnachmittagen, wenn Franz einmal mehr Freunde aus der Schule bei sich hatte und dann die beliebten Räuber- oder Kriegsspiele getrieben wurden und die eifernde Männlichkeit ein bißchen rauh und übermütig werden wollte, sprang doch der Abstand hervor zwischen dem einzelnen schwarzhaarigen Mägdlein in seinem unbewußt weiblichen Gefühle und der polternden Knabenrotte. Da konnte es denn auch zu Streit und Kränkungen kommen. Bei solchen Anlässen nun stand Hubert stets auf Käthes Seite. Es durfte ihr keiner ein Härchen krümmen, und wer ihr zu nahe getreten war oder gar einmal ein paar Thränen abgezwungen hatte, verfiel sicherlich seiner Vergeltung in Form einiger derben Püffe. So sammelte sich in dem kleinen Mädchenherzen ein Vorrat fester Dankbarkeit und Freundschaft.

Die Jahre flossen vorüber in ihrer Einfachheit. Und die Gestalt des Jugendfreundes rückte für Käthe in ein anderes Licht. Ihre jugendliche Phantasie verwob ihn in die Dichtungen, die sie kennenlernte. Und war es früher meist er gewesen, den sie in den Edelknappen und Rittern, in den mutigen Jägern und unglücklichen Prinzen der Märchen wiedererkannte, so konnte es später leicht geschehen, daß Siegfried oder Parcival ihm ähnlich sahen; und in Thekla von Gumperts Erzählungen konnte er ebenso plötzlich den Kopf durch die Fabel stecken wie in der Maßliebchenkette und in Ivanhoe, die nach und nach der kleine Weihnachtstisch brachte unter dem duftenden Tannenbaum.

Schließlich aber, jenseit der Grenze, wo sie den Kinderschuhen entwachsen war, blieb doch nichts von all dem Fremden an ihm haften. Dann war er nichts mehr als er selbst, und ihr Herz stand ihm immer gleich nahe, in dem Wohlgefühl vertrauter und sicherer Freundschaft, die das Wort entbehren kann.

Sie duzten einander wie früher. Er kam wie früher und suchte sie auf, in der Küche, in der Kammer, im Garten. Er durfte sie necken, bei den schwarzen Zöpfen nehmen, oder auch am Kopfe, wenn er, wie so oft als Kind, ihren Blick in eine bestimmte Richtung leiten wollte. Sie küßten sich auch, wie sie es als Kinder gethan, so, wenn sie gerade nebeneinander waren und der harmlose Wunsch es wollte, wenn er ihr für etwas zu danken hatte, oder wenn sie von ihm eine Aufmerksamkeit erwiesen bekommen. Im ganzen war er der Verpflichtete. Ihre frühe Selbständigkeit hatte ihr bald die Rolle des Hausmütterchens zugeteilt. Als die beiden Burschen dann zu großen jungen Leuten herangewachsen waren, gab es für die drei Männer im Hause mancherlei zu bedenken und zu besorgen, was sie mit fraulichem Wesen that, mit ihrem gleichmäßigen ruhigen Ernst und geräuschlosen Schaffen.

(Fortsetzung folgt.)




Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Der Seemannsberuf.


Die urgermanische Sehnsucht in die weite Welt, der Drang nach Abenteuern in fernen Weltteilen steckt unserer deutschen Jugend auch heute so fest noch im Blute, daß ein großer Teil derselben aus dem Binnenlande unternehmend nach der Wasserkante blickt, um von dort aus das Glück zu versuchen. Mit diesen mehr oder weniger dunklen Trieben ins Unbekannte soll man bei einer Berufswahl nun wohl nicht ernstlich rechnen; es giebt aber andere Umstände, die eine nähere Betrachtung des Seefahrerberufs wohl angemessen erscheinen lassen. Es ist dies das in letzter Zeit

immer mehr hervortretende Anwachsen unserer Kriegs- und Handelsmarine, das mit dem Ausbau unserer kolonialen und sonstigen überseeischen Beziehungen Hand in Hand geht. Nimmt man hierzu noch den immer lebhafter werdenden Wettbewerb der verfügbaren Kräfte im Erwerbsleben überhaupt, der die jungen Leute dazu drängt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_271.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2021)