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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Sie, Fröln Sophiechen, Sie sollen sich auch ’mal so was angewöhnen, und wenn’s bloß is, daß Sie allein ein Vergnügen davon haben, denn um zu verkaufen, da brauchen Sie nicht zu lehren, indem daß Sie ’mal was zu leben haben.“

Ditscha lächelt und die Augen stehen ihr voll Wasser. Sie nickt Hanne zu, die eben hinausgeht mit einem nochmaligen: „Versuchen S’ man mal!“ und rührt in ihrer Tasse.

„Würdest Du wohl,“ beginnt Tante Klementine, um sie auf andere Gedanken zu bringen, „würdest Du mir wohl ein paar Seiten vorlesen, Ditscha?“

„Natürlich, Tante! Die Fortsetzung von neulich?“

„Ach nein – ich möchte – hättest Du nicht Lust, mit mir ein Paar Klassiker – – ich habe solange nicht darin geblättert, und Du kennst sie wohl kaum?“

„Nur aus der Litteraturstunde, Tante Tine – die Bibliothek ist ja immer verschlossen jetzt, wie Du weißt.“

„Aber Du hast Lust? Zum Beispiel – – ei, lesen wir auf gut Glück – geh’ an das Bücherspind und greife etwas heraus!“

Gehorsam kommt Ditscha diesem Wunsche nach.

„Faust?“ fragt die alte Dame, zweifelnd das Buch betrachtend, das ihr die Nichte reicht, „aber Du bist ja alt genug. Kannst Du noch sehen? Sonst klingle ich für die Lampe.“

Aber Ditscha hockt sich ans Bogenfenster, der Tante gegenüber, und liest:

„Habe nun, ach! Philosophie –“

Tante Tine horcht auf, als das Mädchen mit zitternder benommener Stimme vorträgt:

„Ach, könnt’ ich doch auf Bergeshöh’n
In deinem lieben Lichte geh’n,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben!
000000000
Weh! Steck’ ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch!
000000000
Urväter Hausrat drein gestopft –
Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!

Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Statt der lebendigen Natur,
Da Gott die Menschen schuf hinein,
Umgiebt in Rauch und Moder nur
Dich Tiergeripp und Totenbein.“

Ditscha hört plötzlich auf zu lesen, senkt den Kopf auf das Buch und fängt laut an zu weinen. „Ach, Tante Tine, Tante Tine!“

Die Tante empfindet einen lebhaften Schrecken. „Aber, Ditscha, Kind, Sophiechen!“ ruft sie und denkt dabei: Um Gottes willen – das Kind fühlt jetzt klar, was es entbehrt, es sehnt sich!

Und laut bittet sie: „Was hast Du, mein altes Herz?“

Ditscha ist aufgesprungen. „Ach, Tante, ich will nachher wiederkommen, bitte, entschuldige mich einen Augenblick, ich will nur ’mal durch den Park laufen, ich ersticke hier im Zimmer – bitte – bitte –“

Und schon ist sie hinausgeflüchtet, hat ihr Tuch vom Stuhl gerissen im Vorzimmer und läuft nun die Treppe hinunter in fliegender Hast und durch die Halle ins Freie.

Aufschluchzend eilt sie in einen Seitenpfad hinein, immer weiter, weiter, an der Gärtnerwohnung vorüber und aus dem Park hinaus, als beengten sie auch diese Mauern noch. Auf dem nassen zerfahrenen Feldweg, zwischen Parkmauer und Waldsaum geht sie dahin. Ach, wie so öde ist die winterliche Welt, wie starr und kalt, kein lebendes Wesen weit und breit; über ihr die stummen Wolken, neben ihr der stumme Wald, und dort das stille finstere Herrenhaus in seinem schweigenden Park. Kein Licht blitzt aus den Fenstern, natürlich, sie sitzen da noch im Dämmern, sie haben nichts, das sie sehen möchten im freundlichen Lampenschimmer, und Gram und Leid macht sich gern im Finstern an sein Opfer. Tante Bertha sitzt in der Sofaecke, und Onkel Jochen wandert im Zimmer auf und ab, und keines spricht ein Wort, denn der Verlorne geht um, der Ertrunkene, und fragt sie: Wie könnt Ihr nur noch leben ohne mich? Wie könnt Ihr nur das Dasein ertragen? Was ist denn alles andere, das Ihr noch besitzt? Nichts – ohne mich! Ein schönes Gut, ein trautes Haus, Eure gegenseitige Neigung – nichts! Und was habt Ihr da an meiner Statt? Ein fremdes Mädchen – was kann sie Euch sein? – Nichts! Sie ist da, nun gut, sie ist da! Füttert sie meinetwegen groß – verdrängen wird sie mich nicht, bin ich doch da, ich, die Hauptperson – bin ich gleich tot! Ersetzen kann mich nichts!

Ditscha ist in verzweifelter Stimmung. Nur ein Menschenherz, dem ich etwas sein darf! Aber mich will keiner, keiner! schreit es in ihr. Papa vermißt mich nicht, Liesing habe ich nun auch verloren, und Tante Tine? Na, Tante Tine ließ sich aus Mitleid herab und ist froh, wenn das verträumte dumme Mädel wieder das Zimmer verläßt. – –

Ach, wenn sie wenigstens arbeiten könnte, sich müde arbeiten wie eine Tagelöhnerfrau, um dann im Schlaf Vergessenheit zu finden, Vergessenheit ihres unnützen, überflüssigen Daseins.

Aber – Arbeit giebt es für sie auch nicht.

Sie ist die Rasenböschung nach dem Wäldchen hinaufgestiegen, dort steht eine roh aus Birkenstämmen gezimmerte Bank, triefend von der Nässe des Herbstnebels und mit welkem Laube bestreut. Im Westen haben sich die schwarzen Wolken etwas gelichtet, ein trüber gelblicher Schein liegt über der Landschaft – Ditscha starrt hinein, bis ihr die Augen wehthun.

Auf einmal hört sie das Stampfen und Schnauben eines Pferdes, in geringer Entfernung von ihr kommt ein Reiter auf dem Feldweg daher, ein Reiter, der just das Tier anhält und, von ihr abgewendet, nach dem Herrenhause hinüber späht.

Das Herz droht ihr still zu stehen – trotz der tiefen Dämmerung erkennt sie ihn, es ist Hans von Perthien. Ihre Blicke hängen ganz starr an ihm, sie kauert sich auf der Bank zusammen und hat nur den einen Wunsch, er möge sie nicht sehen. Warum? weiß sie selbst nicht.

Plötzlich wendet er den Kopf und sieht scharf zu ihr hinüber. Ein paar Minuten vergehen, während sie keinen Blick voneinander lassen, dann hat auch er sie erkannt, springt vom Pferde und, dasselbe nach sich ziehend, erklettert er die Böschung.

„Mein gnädiges Fräulein, das nenne ich aber Glück!“ Seine Stimme klingt so froh und harmlos, daß sie eine ganze Schar unheimlicher Geister von Ditscha verjagt. „Was um alles in der Welt thun Sie hier, zu dieser Stunde?“ fragt er weiter. „Ich bilde mir ein, Sie sitzen da im Beetzener Salon am Klavier und phantasieren über Beethoven, und nun muß ich Sie hier treffen? Wissen Sie auch, daß ich einmal wieder so – Sie finden es sicher unbegreiflich – so unbescheiden war, mich bei Ihrem Herrn Onkel, vielmehr der Frau Tante, melden zu lassen? Natürlich wieder mit dem nämlichen Erfolg – die Herrschaften empfangen nicht.“

Er hat sich neben Ditscha gesetzt und ihre zitternde Hand geküßt. Das Pferd steht geduldig zur Seite; der alte Verwaltergaul scheint solche Situationen zu kennen.

„In dieser Zeit um Weihnacht nimmt Tante niemand an,“ stottert sie.

„O, und ich hatte mich auf eine Wiederholung des neulichen Nachmittags wie ein Kind gefreut.“

Ditscha bleibt stumm.

„Wird es immer so sein?“ fährt er fort.

„Ja!“ sagt sie trostlos.

„Und das ertragen Sie?“

„Wie Sie sehen.“ Es klingt ebenso trostlos.

„Ich möchte das Nest an allen vier Ecken anzünden!“ lacht er.

„Thun Sie das doch, ich habe nichts dagegen,“ antwortet sie trotzig.

Er horcht auf; die Stimmung ist gut!

„An allen vier Ecken,“ wiederholt er, „und dann – dann würde ich mich in die Glut stürzen, um Sie zu retten.“

Ditscha zuckt die Achseln. Dumme Phrase! denkt sie.

„So geht es nicht!“ sagt er sich. „Ich wollte,“ fährt er fort, „Sie könnten meine Mama einmal besuchen, so ein liebes herziges Mutting ist sie, und wie sie Sonnenschein liebt und Jugend und Frohsinn. Ihr einziger Kummer ist, daß sie keine Tochter hat, ein Töchterlein, das sie in rosige Tüllkleider stecken und auf den Ball führen, mit dem sie wieder jung werden kann!“

„Ich würde nicht zu ihr passen,“ erklärt sie, fast gegen ihren Willen schroff, „ich möchte nicht auf Bälle gehen, ich möchte nur – ich möchte –.“ Sie schweigt, weil sie fühlt, daß ihr ein Schluchzen in der Kehle aufsteigt.

„Ich habe nicht das Recht, nach Ihrem Kummer zu fragen,“ murmelt er.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_246.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)