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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

 Vor dem Feste.

Frau Sonne hat gar viel zu thun,
Darf heut’ im Wolkenbett nicht ruh’n:
Wo nur ein Flöckchen Schnee noch sitzt,
Ihr goldner Strahl den Tann durchblitzt,

5
Der schafft im warmen Liebesmüh’n

Dem moos’gen Boden frisches Grün.
Wo dürres Land den Grund noch deckt,
Sie zarte Anemonen weckt
Und gelbe Primeln, Veilchen auch;

10
Drauf küßt sie noch den Weißdornstrauch,

Umglühend seine lichte Pracht,
Und sinkt. Die Dämm’rung wandelt sacht;
Doch lustig fort die Quelle schäumt,
Hat sie doch winterlang geträumt!

15
Auch ein paar Vöglein blieben wach,

Leis’ zwitschernd unterm Blätterdach;
Sie üben wohl, zu morgen früh,
An ihrer Ostermelodie - - -
Das wird im Wald ein Jubel sein,

20
O Seele, stimme jauchzend ein!


 A. Nicolai.




Dasein zweckmäßig – also schön – sind, nicht morgen bereits ihre Zweckmäßigkeit eingebüßt haben. Mit andern Worten: das weibliche Schönheitsideal, wie es den klugen, unverkünstelten, leiblich und geistig gesunden Männern vorschwebt, kann der Mode des Tages in allen wesentlichen Punkten nicht unterstellt sein, denn es deckt sich durchaus mit dem vollendeten Typus der Gattung. Trotzdem giebt es ein Scheinideal, das von dem echten durch eigentümliche Uebertreibung gewisser Züge sich unterscheidet und, eben weil hier die Mode mitspricht, allerlei Schwankungen durchmacht. Der unverfälscht empfindenden Minderheit erscheint alsdann der Geschmack, der sich in diesem Scheinideal ausdrückt, krankhaft, naturwidrig, thöricht: aber die Minderheit kommt nicht immer zum Wort, so daß die Täuschung entsteht, als sei eine ganze Nation oder ein ganzes Zeitalter auf ästhetischen Irrwegen, was zweifelsohne kaum irgend jemals der Fall war. Verirrung in diesem Sinne darf man natürlich nicht die Schwärmerei anderer Völker und Rassen für ihr weibliches Schönheitsideal nennen. Das weibliche Schönheitsideal des Kongonegers deckt sich naturgemäß mit dem vollendeten Typus der Kongonegerin. Der Kongoneger findet die breite Stülpnase, die aufgeworfenen Lippen, die zurückfliegende Stirne seiner Stammesgenossin ganz mit dem nämlichen Rechte schön wie der Kaukasier das Antlitz der capuanischen Venus. Nur wir haben beim Anblick auch der tadellosesten Kongonegerin die Empfindung, daß sie vom weiblichen Schönheitsideal abweicht, weil nämlich unser Ideal ein wesentlich anderes ist als das des Kongonegers. Um diese Rassenverschiedenheit handelt es sich hier nicht, sondern um augenscheinliche Abtrünnigkeiten vom kaukasischen Schönheitsideal innerhalb der kaukasischen Welt, um Anschauungen, welche im Hinblick auf den wirklichen Typus der Gattung als barbarisch charakterisiert werden müssen.

In die Reihe der hier gemeinten Verirrungen gehört vorab die modische Wespentaille. Es darf ausdrücklich betont werden, daß sich die Frauen weit öfter und weit entschiedener für dies Scheinideal begeistern als die Männer, deren Urteil doch aus begreiflichen Gründen in Fragen der weiblichen Schönheit den Ausschlag giebt. Die Wespentaille ist unschön, weil sie zweckwidrig ist. Daß trotzdem der Modegeschmack – im Widerspruch mit dem Naturgeschmack, der gleichzeitig allen wirklichen Kunstschöpfungen zu Grunde liegt – diese unschöne Wespentaille zum Nachteil des frei entwickelten Oberkörpers bevorzugt, das beruht unseres Erachtens auf jenem auch sonst grassierenden Irrtum, der die Wirkung des Schönen durch Uebertreibung zu erhöhen vermeint. Schlankheit ist ganz gewiß ein Hauptzug des germanischen Schönheitsideals. Von der vielgepriesenen Isolde z. B. sagt der Dichter, sie sei süß gestaltet gewesen um und um, lang, schlank und schwank, als hätte die Minne sie gedreht „für sich selber zu einem Federspiel, dem Wunsche zu einem Endeziel“. Die Unterstellung aber, als müsse die Schönheit nun mit zunehmender Schlankheit sich ebenso fortgesetzt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_237.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)