Seite:Die Gartenlaube (1895) 236.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


gesenktem Kopf unter der Last dessen, was der früher so gutmütige, harmlose Lorenz ihr auf die Seele gelegt hatte. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn voll an.

„Lorenz!“ sagte sie entschlossen, „jetzt will ich Ihnen zeigen, daß ich mir aus Ihrer Freundschaft wohl was mache und daß ich ein schweres Opfer dafür bringe. Sehen Sie, ich kann mich, wie ich auch hin und her denke, nicht anders entschuldigen über – über die Geschichte im ‚Odeon‘, als indem ich Ihnen ganz ehrlich erzähle, was dazumal gerade alles geschehen ist, und warum ich keine Lust gehabt habe, aufzustehen, wie Sie mit dem Fräulein gekommen sind … Es war übrigens nur ein Augenblick; bis ich mich besonnen hab’ und wollte hin zu Ihnen, da waren Sie schon verschwunden …“

„Ich werd’ wohl dort stehen bleiben, bis mich die vornehmen Herren wegweisen!“ knurrte er.

„Aber ich will es thun,“ fuhr sie unbeirrt fort, „weil ich einsehe, daß es nicht anders geht. Und ich habe dabei ein ganz sicheres Vertrauen, daß Sie es niemand weiter sagen werden!“

„Darauf können Sie sich verlassen,“ sagte er einfach.

„Nun also!“

(Schluß folgt.)


Das weibliche Schönheitsideal.

Von Ernst Eckstein.


Die Weisen und Schriftgelehrten haben jahrhundertelang an dem Problem der Körperschönheit im allgemeinen und an dem der weiblichen Schönheit im besondern herumgetastet, ohne etwas Vernünftiges und Erbauliches zu Tage zu fördern. Erst der deutschen Philosophie neuesten Datums ist der Nachweis gelungen, daß Körperschönheit in letzter Linie gleichbedeutend mit Zweckmäßigkeit ist.

Man braucht sich angesichts dieser These durchaus nicht dem Eindruck zu überlassen, als sei nun etwa die unverwelkliche Wunderblume des Liebreizes und der Anmut schnöde zerpflückt und ein für allemal ihres ambrosischen Duftes beraubt. Ganz und gar nicht! Der ewige Frühling des Menschenherzens wird durch die klare Erkenntnis der hier einschlägigen Fragen ebenso wenig beeinflußt wie der Naturgenuß durch die Chemie und Physik. Umflammt etwa das leuchtende Morgenrot denjenigen, der da begreift, auf welchen physikalischen Vorgängen diese Erscheinung beruht, weniger zauberisch als den Unwissenden? Oder wirkt vielleicht der herbstliche Wald mit seinem unvergleichlichen Farbenspiel minder nachhaltig auf mein Gemüt, weil ich mir vom Naturforscher sagen lasse, die Pracht dieser gelb und hochrot glühenden Wipfel sei erzeugt durch das Schwinden des Chlorophylls in den Blattzellen?

Streng genommen besitzt freilich jeder einzelne Mann sein besonderes weibliches Schönheitsideal, das Ideal nämlich desjenigen Weibes, dessen körperliche und seelische Eigenschaften zu den seinigen die vollkommenste und zweckmäßigste Ergänzung bilden – dem Dichterworte entsprechend: „Wo Starkes sich und Mildes paarten, da giebt es einen guten Klang.“ Gewisse Züge indes dürften so ziemlich bei jedem dieser Einzelideale sich wiederfinden – und von diesen gemeinschaftlichen Zügen sei hier die Rede.

Urbedingung für jedes weibliche Schönheitsideal ist die Forderung, daß in der Körperentwicklung, zumal in dem Knochenbau, nirgends sich eine Hemmung zeige. Ob der Einzelne daher für ein hochgewachsenes oder ein zierliches Weib schwärme: darin stimmen die Männer aller Nationen und aller Zeiten ausnahmslos überein, daß keinerlei Abnormität gestattet sei.

Vollzählige, gleichmäßige, hellblinkende Zähne sind schön, weil sie zweckmäßig sind. Ihr Vorhandensein gewährleistet nämlich die möglichst vollständige Zerkleinerung der Speisen und hierdurch eine für das Gedeihen des Organismus vorteilhafte Ernährung.

Ein plastisch gerundeter Arm ist schön, weil er zweckmäßig ist. Rundung ist Muskelfülle; Muskeln sind Arbeitskraft, Fähigkeit, etwas zu leisten, sich im Kampfe ums Dasein „durchzuschlagen“. Es thut hierbei nichts zur Sache, daß unsere Kulturverhältnisse die Damen vielfach der Arbeitsnotwendigkeit überheben. Unser Instinkt – und nur der Instinkt giebt in Fragen der Schönheit sein Urteil ab – steckt tief im Boden der unverfälschten Natur; er bleibt unabhängig von den Zufälligkeiten der äußeren Schicksalsgestaltung.

Eine metallreiche, klare, bewegliche Stimme ist schön, weil sie zweckmäßig ist. Sie verbürgt die normale Entwicklung der Atmungsorgane. Außerdem aber drückt sich in den Modulationen der Stimme das geistig und seelisch Zweckmäßige aus. Eine Frauenstimme von wohlthuender Tonfülle deutet auch auf eine angenehme Persönlichkeit. Zänkische, unangenehme Weiber werden in allen Litteraturen der Welt als Geschöpfe mit gellender, keifender oder knurrender Stimme geschildert.

Auch bei den Einzelheiten des Angesichts läßt sich Zweckmäßigkeit nachweisen, wo wir Schönheit empfinden, wenn es sich hier auch vielfach nicht um die Frage des unmittelbaren Gedeihens, sondern um jene seelische Zweckmäßigkeit handelt.

Wann sind weibliche Augen schön? Die Farbe hat hier offenbar nur eine Bedeutung zweiten Rangs; die Vorliebe für blaue Augen, die sich in dem später zu behandelnden germanischen Schönheitsideal ausspricht, hängt meines Erachtens mit dem rein zufälligen Umstand zusammen, daß der blond-rosige germanische Typus, der aus sonstigen Gründen bevorzugt wird, fast durchgehends Augen von blauer Farbe aufweist. Die allbekannten Verse des Mirza-Schaffy sind denn auch schwerlich mehr als eine artige Spielerei:

„Ein graues Auge,
Ein schlaues Auge;
Auf schelmische Launen
Deuten die Braunen;
Des Auges Bläue
Bedeutet Treue;
Doch eines schwarzen Aug’s Gefunkel
Ist stets, wie Gottes Wege, dunkel.“

Das Endscheidende für das Empfinden des Mannes ist vielmehr nicht die Farbe des Augapfels, sondern die Gestaltung und das Spiel der das Auge umgebenden Weichteile – mit anderen Worten: der Blick, der Ausdruck. Alle Männer sind wohl darüber einig, daß ein weibliches Auge nur dann schön ist, wenn etwas Schönes, d. h. im Sinne unserer Erörterung Zweckmäßiges aus ihm redet – Eigenschaften der Seele nämlich, die im Kampfe ums Dasein vorteilhaft sind. Nichts ist häßlicher als ein geistlos und starr blickendes Auge, sei es von noch so leuchtender Vergißmeinnichtfarbe. Klugheit aber, zärtliche Sanftmut, maßvolle Energie, Fähigkeit im Erdulden, harmloser Frohsinn, Schalkhaftigkeit, Humor – all diese Dinge verleihen dem Auge, selbst bei unscheinbar gefärbter Iris, den Ausdruck der Schönheit, denn all diese Dinge sind zweckmäßig.

Was von dem Auge und seinem Zubehör – dem Lid, den Wimpern, den Brauen – gilt, das gilt ebensosehr von dem Mund als dem „sprechendsten“ Teile des Angesichts. Man vergesse hier nicht, daß just in der Mundpartie gewisse nachmals stehend gewordene Züge vielfach nur als das Endergebnis oft wiederholter Bewegungen angesehen werden müssen. Wer unter stark verstimmenden Eindrücken oder aus Gründen des Temperamentes häufig die Mundwinkel hängen läßt, der bekommt mit der Zeit jenen unauslöschlichen Zug von Verdrossenheit, der uns allen so häßlich erscheint, weil er auf eine höchst unzweckmäßige Veranlagung des Gemüts deutet. Mut, Ausdauer, Wohlwollen, Güte einerseits und Zaghaftigkeit, Leichtsinn, Menschenhaß, Bosheit anderseits sprechen sich in der unteren Gesichtshälfte und namentlich in den Zügen des Mundes mit verblüffender Deutlichkeit aus. Nichts bezaubert daher den Mann so unmittelbar wie ein weibliches Lächeln, das jene zweckmäßigen Gemüts- und Charaktereigenschaften unbewußt zur Enthüllung bringt.

Nach allem Vorstehenden wird uns auch einleuchten, warum mit dem weiblichen Schönheidsideal der Begriff der Jugend so unzertrennlich verbunden ist. Die Züge seelischer Zweckmäßigkeit können auch im späteren Alter vorhanden sein; die leibliche aber kommt vornehmlich zur Geltung in jener kurzen, flüchtigen Blütezeit, die wir „Jugend“ nennen.

Da die Verhältnisse, unter denen das Menschengeschlecht sich entwickelt, nicht von heute auf morgen wechseln, so werden die leiblichen und geistigen Eigenschaften, die heute im Kampf ums

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_236.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)