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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Aber, wenn sie sich wirklich „etwas in den Kopf gesetzt“ hatte und jetzt über Peredas Ausbleiben unglücklich war – ja dann ging sie wohl besser heim, statt ihm hier ferner zu begegnen. Eine „Geschichte“ durfte das nicht werden, was würde Volkhard dazu sagen! …

„Na, wie Du meinst,“ sagte sie endlich ganz ruhig. „Gegen Deinen Willen will ich Dich nicht halten. Schreib’ halt dem Papa eine Karte, daß Du morgen kommst!“

Toni flog hinauf, dies zu besorgen, dann, als es geschehen war, zog sie hastig den großen Reisesack und die Schachtel hervor, um einzupacken. „Gottlob, daß ich fort darf,“ murmelte sie dabei, „ich schämte mich zu Tode, wenn ich ihn nochmals sehen müßte. O, so dumm zu sein, sich so anführen zu lassen!“ Heute waren es schon Zornesthränen, die ihr bei solchen Gedanken neu strömten. Sie wischte sie ab, dabei fiel ihr Blick auf den Spiegel, der ihr verweintes Gesicht mit der geröteten Nase und den zerzausten Haaren zurückwarf. „Ja wohl, so muß man aussehen, um von so Einem geheiratet zu werden,“ höhnte sie sich selber aus. „Aber jetzt,“ sie sprang auf ihre beiden Füße und schleuderte das Tuch weg, „jetzt nähme ich ihn gar nicht mehr und wenn er mich zehnmal wollte, der grundschlechte, falsche Mensch! Wenn ich das dem Schwager sagen wollte von dem Kuß … das möchte ihm doch noch schlimm bekommen … aber lieber auf der Stelle tot sein … als davon reden! … Ach, wer mir das vorgestern gesagt hätte, als ich mich hier beim Anziehen so fürchterlich freute! …“ Die Thränen wollten wiederkommen, sie schüttelte den Kopf. „Jetzt heißt’s die Zähn’ zusammenbeißen und nicht dergleichen thun, ich muß fortkommen, ohne daß es jemand merkt!“ Sie kühlte ihre Augen im Waschbecken und trocknete sie ab. „Ob es wohl dem Lorenz neulich auch so zu Mute war wie mir jetzt? … Aber nein, das kann gar nicht sein, ich hab’ ihm ja vorher nicht schöngethan, er hat sich’s allein eingebildet, dabei hab’ ich doch keine Schuld! O … so falsch, so falsch … wie nur ein Mensch so sein kann!“ Sie stand wieder lange in finstern Gedanken, dann raffte sie sich zusammen. „Es hilft alles nichts, ich muß es verwinden! Nicht mehr dran denken, das wär’ das Beste … Und jetzt einpacken ohne weiteres! …“

Sie setzte die große Schachtel auf den Tisch und hob den Deckel. Da lag das jüngst so verachtete und deshalb gleich wieder eingepackte Bauernmieder in seiner ganzen harmlosen Unmöglichkeit vor ihren Augen, Toni nahm es in die Hand, ein bitteres Lachen wandelte sie bei dem Anblick an. „Ja, Du warst halt auch nicht ‚echt‘ genug,“ sagte sie und nickte ihm zu wie einem lebenden Wesen, „aber mit all’ Deiner Unechtheit bist Du mir viel lieber als die echten Kleider hier, wo die falschen Leut’ drin stecken. Na, b’hüt Gott! Morgen um diese Zeit bin ich schon weit fort und fahr’ zu meinem Vaterl heim. Wenn’s nur schon so weit wäre!“




Ueber Nacht hatte sich der Föhnsturm aufgemacht und schleuderte aus schwarzen Wolkenfetzen Wassergüsse herunter, die sogar für das regenreiche München ihr Ungemütliches hatten. Ein dicker grauer Dunst hüllte alles ein – die Stadt, den Bahnhof mit seinem Gewirr von Schienensträngen und den Zug, welcher gerade qualmend und pustend die große Halle verließ.

Toni schloß schnell das Fenster, aus welchem sie noch soeben der heldenmütig mit herausgefahrenen Schwester einen Abschiedsgruß zugewinkt, weil allsogleich ein Sturzbach darauf niederprasselte, und nahm, so gut es gehen wollte, ihren Eckplatz ein. Das Coupé war stark besetzt: außer einer Mutter mit vier kleinen Kindern und einer ältlichen Dame eine solche Ueberfülle von Handgepäck, daß Toni Mühe und Not hatte, ihren Reisesack noch unter die vielen Ballen und Koffer des Gepäcknetzes hineinzustopfen. Mit der Schachtel mußte sie ihren Sitz teilen.

Als alles soweit untergebracht war, legte sie müde den Kopf an die Seitenlehne und sah zum Fenster hinaus. Aber was sie da zwischen den grauen Regenstreifen unterscheiden konnte, war von einförmiger Trostlosigkeit. Die langgedehnte Hochebene zwischen München und Rosenheim gehört, vom Postzug aus bewachtet, schon bei schönem Wetter nicht gerade zu den entzückenden Reiseeindrücken, bei schlechtem aber heißt es, sich in Geduld fassen, bis die Stationen Haar, Zorneding, Trudering, und ihre ebenso wohltönenden Nachfolgerinnen alle im beschaulichen Trab überwunden und zurückgelegt sind. Ein spannender Roman thut da ausgezeichnete Dienste.

Toni hatte keinen solchen mitgenommen, als sie heute früh vom Volkhardschen Hause schied, lebhaft beklagt von den Kindern, welche die junge Tante rasch liebgewonnen hatten und nur gegen das Versprechen baldiger Wiederkehr ziehen ließen. Sie war froh, jetzt einmal ein paar Stunden ganz allein für sich zu sein, aber sie sah heute schon viel zuversichtlicher in die Welt und wunderte sich selbst darüber, daß ihr das Herz nicht weher that. Ganz so zerrissen, als sie gestern dachte, war es also doch nicht. Auch beschäftigten sich ihre Gedanken, während sie unbeweglich auf die draußen vorüberfliehenden Schneeflächen mit ihren schwarzen Wassertümpeln hinstarrte, viel mehr mit der nahen Heimkehr als mit dem, was hinter ihr lag. Sie stellte sich das gute warme Eckzimmer und seine alten einfachen Möbel vor, die lieben Gesichter von Vater und Mutter, die hinter dem Kaffeetisch auf sie warteten, Burgis vergnügtes Lachen und das Freudengekläff ihres zurückgelassenen Fido. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie mit, Bewußtsein das Glück, eine Heimat zu haben.

„Dort bin ich recht, so wie ich bin,“ dachte sie. „Und so lieb wie die Eltern hat mich doch niemand auf der Welt. Sie sollen’s aber auch jetzt gut haben mit mir.“

Die Freundinnen fielen ihr ein, der Eisplatz in Leopoldskron – freilich, der Lorenz wird jetzt nimmer kommen, sie abholen und die Schlittschuhe tragen. Zu dumm, daß das jetzt so geworden ist! Und an eins hatte sie bisher gar nicht gedacht: mit dem Papa wird es noch einen schweren Stand geben, wenn er erfährt, wie sie den Lorenz hat in München abfallen lassen. In solchen Dingen versteht er keinen Spaß.

Hier wurde ihre Gedankenreihe, die sie trotz des steigenden Kinderlärms fortgesponnen, plötzlich unterbrochen durch einen Plumps von rechts her, wodurch sich ein kleiner rothaariger Junge mit ungeputztem Näschen gewaltsam auf ihren Schoß beförderte.

„Da will ich her,“ erklärte er kurz und bündig und krallte sich sofort ans Fenster an, seine schmutzigen Stiefel ruhig auf Tonis Paletot abwischend. Diese warf einen entrüsteten, hilfebegehrenden Blick nach der Mutter; aber die arme Frau befand sich in solcher Notlage, ihren drei andern auf- und abspringenden und kreischenden Unholden gegenüber, daß sie die vorläufige Unterbringung des vierten als ein unverhofftes Glück anzusehen schien und keine Miene machte, ihn zurückzurufen.

„Sehen Sie, so machen sie mir’s immer, wenn ich mit ihnen unterwegs bin,“ sagte sie klagenden Tons, indem sie ihre wässerigen Augen mit wehmütigem Ausdruck nach Toni hinwandte, „ach, und ich muß so viel reisen! Mein Mann ist Künstler, der seinen Aufenthalt oft wechselt, das ist für die Kleinen nicht gut, sie verwildern mir so sehr!“

Ihre und der Kinder merkwürdige Kleidung, sowie die frühzeitigen Jongleurkünste der Jungen, ließen die Art der Künstlerschaft des vorangereisten Vaters mit Sicherheit vermuten. Toni sah die vermagerte Frau an und brachte es nicht übers Herz, den ungezogenen kleinen Bengel rücksichtslos abzuschütteln, obgleich die alte Dame am andern Ende jetzt auch mit scharfer Stimme ihre Mißbilligung einer für die Mitreisenden so belästigenden Jugend aussprach. Aber im stillen nahm sie sich vor, den zehn Minuten langen Aufenthalt in Rosenheim zu benutzen, um ein anderes Coupé zu suchen und dieser Gesellschaft zu entrinnen. Mit einem festen Ruck bändigte sie den kleinen Plagegeist, als er Miene machte, ihr ins Gesicht zu langen, und die Drohung, ihn auf den Boden zu setzen, bewirkte, daß er sich die fernere Zeit über leidlich ruhig hielt.

Endlich – ein langer Pfiff. Station Rosenheim! …

Toni langte schnell ihren Reisesack herunter, griff nach dem Uebrigen und sprang, sobald das Coupé geöffnet wurde, hinaus, dem nächsten Kondukteur zurufend: „Ist noch ein anderes Damencoupé im Zug?“

„Bedauere, nein.“

„Nichtraucher?“

„Auch stark besetzt. Aber dort steht der Schnellzug, der in fünf Minuten auch nach Salzburg geht; wollen Sie noch ein Zuschlagsbillet nehmen?“

„Ja, ja!“ Sie reichte ihm hastig ein Geldstück. „Lassen Sie mein Gepäck an das Coupé hinbringen, ich hole schnell das Billet.“

Sie eilte dem Bahnhofsgebäude zu, kam zuerst auf die unrechte

Seite, fand dann den richtigen Schalter und flog, während

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_234.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)