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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

unpassende Redensarten in ihrer Gegenwart –. Unsereinem schadt das nicht, aber so ein Kind, das muß ja ganz dwatsch werden. Und die gnä' Frau hört und sieht von alledem nichts nich, weil daß sie immer nur die Vergangenheit in Kopp hat. Wenn nu das Malheur es will, daß so ein Windhund – denn das ist einer, ich kenn’ mich aus mit den jungen Herrens, ja wahrhaftig, gnä’ Fröln, ein Windhund ist er, ich hab’s an seinen Blicken gesehen, mit denen er auf Fröln Sophie gestarrt hat – wenn der ins Haus kommt und wird dann gleich noch mit dem besten Rheinwein traktiert, der sonst nur zu Geburtstags heraufgeholt wird, was soll er da man denken? Dreist wird er, und unserm Fröln Dummheiten vorschwatzen wird er, und die wird’s glauben, jawohl, sag’ ich, glauben, aus purer Langeweile wird sie’s thun, denn, Gott sei’s geklagt, sie weiß selber nicht, wozu sie ihr junges Leben hat.“

„Hanne! Hanne!“ mahnte Fräulein Klementine, die älteste der vier Geschwister von Kronen.

„Ich sag’s wohl zu ehrlich, gnä Fröln, was ich mein’?“

„Hanne, Du sollst Dir das Kritisieren abgewöhnen – das kommt Dir nicht zu.“

„Wat? Das Kritisieren soll ich mich abgewöhnen? Nee, das thu’ ich nicht, denn das ist meine Pflicht. Und Sie sehen’s auch, gnä Fröln, und ich seh’s. Ist das ein Leben für so ein junges Mäten? Keine Jugendlust und keine Jugendmüh’? Wo so die Adern voll sind von Leben und die Seele voll von Verlangen, was zu sein, was zu erleben, was zu nützen in der Welt, in ’n Glaskasten setzen, absperren wie in ’n Kloster, Missionsstrümpfe stricken und die Rosen nur von weitem blühen sehen? Ist das recht? Unsereiner hat’s ja gelernt, im alten Staub Atem holen so pöh a pöh, aber so ne Lunge von achtzehn Jahr – –“

„Beruhige Dich nur, Hanne. Sieh, weder Du noch ich ändern ’was daran, und Gott allein weiß, wie er Ditschas Leben gestalten will.“

Hanne hat während ihres Scheltens umher geräumt und ist in das angrenzende Schlafzimmer gegangen. „Ja, ja,“ murmelt sie, „da hat’s gnä’ Fröln wieder ’mal recht, wir beide ändern’s nicht.“ Aber laut gab sie nicht klein bei, sondern rief zurück: „Der Herr Bruder hätt’ auch nicht wieder freien brauchen, oder ’ne Aeltere konnt’ er nehmen, die zu ihm paßt; dann hätt’ das Fröln Sophie zu ihm hingekonnt. Aber so, wo die Stiefmutter selbst noch ein Kind ist! Wie, wenn da nun noch Gören kommen, gar Jungs? Dann wischt sik Fröln Ditscha gefälligst den Mund und mit Beetzen erben ist’s nix nicht, und sie kann dann auch so herumsitzen wie gnä’ Fröln Klementine und Fröln Anna hier sitzen beim Herrn Bruder.“

„Und sitzen wir denn nicht gut?“ fragte die Kranke sanft, und der leidende Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich noch. „Hanne, Hanne, schweig’ heute abend, denn Du läufst von Unzufriedenheit über wie die Dachrinne draußen vom Regen.“

„Nicht um meinetwegen,“ brummt die kleine dicke Person, indem sie zurückkommt, und dann hebt sie ihr „Fräulein“ aus dem Stuhl und trägt sie auf treuen Armen in das Schlafzimmer. „Min god gnä Fröln Tine,“ sagt sie zärtlich, „nu mött’n ’s aber weddr en bätken swarer werden, Sie sind ja as ’n Swanenduhn so leicht. Hüt heff ick vom Pachter wunnerschöne Eier halt und ein Paar junge Duwen; et’n mött’n Se, et’n, gnä’ Fröln, denn kik’n Se, wenn Se von der Erde gehen, denn wet ick nich, wat ut Fröln Ditscha wärn sall.“ Und dabei fällt eine Thräne aus ihren Augen auf die Hand der Kranken.

Und die erwidert leise und fröhlich: „Dumme Hanne, ich denk’ gar nicht ans Sterben, so lang Du bei mir bist, ist’s gar nicht möglich, Du läßt den knöchernen Mann gar nicht heran zu mir.“

„O du lever Gott, gnä’ Fröln, ich stürbe mit, denn Sie sind de Sünn int’ Hus, vor Ditscha und vor mi! Dagegen sind Fröln Anna ihre großmächtigen Wohlthaten as ’n blassen Maanschin, und, gnä’ Fröln, morgen behalten Sie das Fröln Ditscha ’n bät’n bei sich, denn der Windhund muß ihr aus ’m Kopf, nicht wahr?“

Und Fräulein Klementine lächelt und verspricht alles. Sie liegt noch lange wach und denkt an Ditscha – die Hanne hat so recht – arme Ditscha! Was soll aus ihr werden bei diesem tiefen leidenschaftlichen Charakter? – Einzelne kleine Züge aus des Mädchens Leben treten in ihre Erinnerung, und immer spricht sich in ihnen ein ideales Streben aus, eine Opferfreudigkeit sondergleichen, das Bestreben zu lieben mit der ganzen großen überquellenden Fülle ihres Herzens, das leidenschaftliche Verlangen, wieder geliebt zu werden.

Als kleines mageres Dingchen von fünf Jahren kommt sie von der Dorfstraße herein, verstaubt, zerzaust, ohne Hut, mit wirrem Haar, und die Thränen haben schmutzige Rinnen auf dem heißen Gesichtchen hinterlassen, in ihren Armen hält sie einen kleinen mißhandelten Hund, den sie nun in ihren Puppenwagen bettet, den sie streichelt und füttert, und den sie flehentlich bittet, nicht zu sterben – ach bitte, nicht sterben! Sie gebärdet sich so außer sich, daß man sie gewaltsam von dem wimmernden Tier trennen muß, um es entfernen und töten zu lassen. Sie ringt die Hände und schreit stundenlang, thränenlos, man holt den Arzt, man schenkt ihr Püppchen, man sagt ihr endlich, der Hund sei tot, da hält sie mit Schreien inne.

„Thut ihm noch etwas weh?“

„Nein, nein, Ditscha!“

„Er hätte mich gewiß lieb gehabt, wenn er gesund geworden wäre,“ sagt sie und schreit abermals.

Eines Tages, sie ist nun fünfzehn Jahre alt, setzt sie das Haus in Erstaunen durch die seltsame Gesellschaft, mit der sie heimkommt, ein zerlumptes Weib, das ein Kind auf den Armen trägt, eine Landstreicherin schlimmster Sorte, die irgendwo auf den Schub gebracht worden ist. Ditscha verlangt kurz und bündig Aufnahme für sie, da das Kind Diphtheritis habe. Alles gerät in Aufregung, Onkel Jochen wettert und flucht, Tante Anna reißt sie ans Fenster und sieht ihr in den Hals und Tante Bertha befiehlt, die Frau zu entfernen und nach dem Gertraudenhaus zu bringen, einem uralten Steinbau, des Dorfes Spital, das irgend ein Ahn erbaut hat, und das sich noch immer der reichlichen Unterstützung von seiten der Herrschaft erfreut.

Aber Ditscha hat eine andere Auffassung, sie zittert und wird blaß. „Das ist nicht christlich!“ stößt sie hervor, – „wenn Ihr Euch fürchtet, so mag sie in meinem Zimmer wohnen, ich werde das Kind pflegen.“

„Nein! Denn abgesehen von allem andern ist die Krankheit ansteckend!“ schreit Onkel Jochen.

„Wenn alle so denken wollten!“ sagt sie mit sprühenden Augen. Aber sie ist machtlos und die Frau wandert ins Krankenhaus; Tante Bertha packt vor Ditschas Augen einen Korb mit Kleidungsstücken und Nahrungsmitteln – es rührt sie nicht. Abends wird sie vermißt, man sucht und findet sie im Spital, wo sie das Kind wartet, während die Frau angeblich in die Stadtapotheke gegangen ist. Hanne, die das junge Mädchen mit Gewalt fortholen will, richtet nichts aus; sie habe einmal versprochen, das Kind zu pflegen, bis die Mutter wiederkomme. Es bleibt Hanne nichts übrig, als mitzuwarten. Wer aber nicht zurückkehrt, überhaupt nicht, ist die Landstreicherin; sie weiß das elende Wurm in guten Händen und ist froh, der Last ledig zu sein.

Erst infolge des direkten Befehles von seiten des Arztes verläßt Ditscha das Kind, nachdem sie das Versprechen erhalten hat, falls es gesunde, wolle Onkel Jochen für dasselbe sorgen, und sie dürfe es erziehen.

Natürlich stirbt das Wurm und Ditschas Verzweiflung ist groß. Wieder gipfeln ihre Klagen in dem Ausruf: „Es hätte mich gewiß ein bißchen lieb gehabt!“

Arme Ditscha! Sie fühlt, was ihr fehlt – der Besitz eines ganzen Menschenherzens. Sie sind hier ja samt und sonders Herzenskrüppel, nicht mehr fähig, alles zu geben, und eine Natur wie Ditscha braucht volle warme Sonne, nicht kalte jammervolle Reste.

„Arme Ditscha,“ flüstert Klementine, „was wird aus Dir?“

Könnte sie nur mehr thun – aber wie lange wird sie noch leben? Ja, sie will ihr helfen, gewiß, aber ihr fehlt der Mut, das junge Geschöpf, dessen Augen so sehnsuchtsvoll und fragend durch das Fenster schweifen, neben sich zu halten in der stillen Krankenstube. Klementine ist so bescheiden geworden, sie spielt die letzte Rolle in dem Haushalt, dem wunderlichen originellen Haushalt auf Beetzen. Ihr versagt die Kraft, das Kind heraufzuziehen in die reiche Welt ihrer Gedanken und Interessen; sie hat’s gewollt, aber sie ist erlahmt nach den ersten Versuchen, Ditscha für ihre Lieblingsbeschäftigung zu interessieren. Die Kranke lebt und webt in den Wundern der Schöpfung, und vor allem ist es der Sternenhimmel, der sie anzieht. In ihrem einsamen entsagungsreichen

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