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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

ungefähr so groß wurde, als wenn er in der Form aus Lottchens Puppenküche gebacken wäre. Kurz, die junge Dame schien zunächst als einziges Vorbild die Königstochter aus dem Volksliede erwählt zu haben, nach der sich schon Generationen so teilnehmend erkundigen: „Was thut sie denn den ganzen Tag, da sie nicht spinnen und nähen mag?“

Unter diesen Verhältnissen wird man die von Zeit zu Zeit wiederholte Behauptung der Mutter: „Das Mädchen muß in Pension!“ durchaus gerechtfertigt finden, und schon rückte das Schreckbild in greifbare Nähe. Auf dem mütterlichen Schreibtisch lagen bereits Prospekte über Prospekte, in denen Damen sich erboten, gegen eine jährliche Entschädigung von vier-, respektive sechshundert Mark Herz und Geist, Körper und Gemüt zu bilden und alle etwa fehlenden edlen Charaktereigenschaften prompt und sicher nachzuliefern.

Dieser Moment in dem Schicksal unserer Heldin ist es, in dem wir ihre Bekanntschaft machen und in dem zugleich der Fähnrich in die Erscheinung trat und ungeahnte Bedeutung für das Seelenleben der jungen Dame gewinnen sollte.

Die Einladung zum Sonntag war von einer unbeschränkten Bitte „auf den ganzen Tag“, die der Vater recht unvorsichtig ausgesprochen hatte, schriftlich auf „Nachmittag und Abend“ modificiert worden und der Fähnrich hatte, ebenfalls schriftlich, mit der Wendung zugesagt, daß sich Arthur von Soten die besondere Ehre geben werde, der freundlichen Einladung nachzukommen.

Dieses inhaltsreiche Schriftstück war auf dem Tische liegen geblieben und wurde des Abends gesucht, da sich ein leidenschaftlicher Streit zwischen den Eltern erhoben hatte, ob „Soten“ mit oder ohne h geschrieben würde, und man sich schwarz auf weiß überführen wollte.

Das billet doux war aber nicht aufzufinden, und erst nach geraumer Zeit und scharfem Verhör bekannte Hänschen, es in Verwahrung genommen zu haben – „ich kann nichts herumliegen sehen!“ bemerkte sie würdig – ein plötzlich erwachter Ordnungssinn, der von der Mutter mit Recht mißtrauisch betrachtet wurde, da man nie vorher auch nur eine Andeutung davon bemerkt hatte.

Der Vater schloß übrigens den Brief, nachdem die Streitfrage entschieden, in sein Pult. „Damit Du Dich nicht wieder über herumliegende Sachen zu kränken hast,“ wie er spitz bemerkte.

Der Sonntag, der Arthur von Soten in Person bringen sollte, rückte inzwischen näher.

Die Mutter erkältete sich ein paar Tage vorher und wurde von Hänschen mit einer wirklich diakonissenhaften Aufopferung gepflegt und mit allen erdenklichen Hausmitteln bombardiert, um Sonntag aktionsfähig zu sein. Das Befinden der Präsidentin besserte sich auch und die Krankheit blieb nur in der sichtbaren Form einer bedeutend angeschwollenen Oberlippe zurück, die der Symmetrie der mütterlichen Züge allerdings einigen Eintrag that, von der Besitzerin aber mit der Gleichgültigkeit des reiferen Alters gegen dergleichen Schicksalsschläge ertragen wurde.

Hänschen dagegen litt innerlich die furchtbarsten Qualen! Wenn der Fähnrich kam und die Mutter so sah! Da er sie vorher nicht kannte, mußte er ja naturgemäß annehmen, daß sie immer so aussah, ein Gedanke, bei dem sich die Tochter unaussprechlich blamiert fühlte und die Mutter solange und eindringlich beschwor, doch einen Tag im Bett zu bleiben bis die brave Frau, welche die fieberhafte Angst der Tochter gar nicht begriff, sich unwillig erkundigte: „Du bist wohl verrückt geworden?“ und damit der Besorgnis wenigstens den leidenschaftlichen Charakter benahm.

Als der Sonntag nun wirklich hereinbrach und die Mutter noch nicht abgeschwollen war, stieg die Verzweiflung Hänschens aufs höchste. Sie war sogar so unvorsichtig, sich zu verraten und meinte: „Mutter, ich habe gesagt, Minna soll die Schlafstube heizen – es ist Dir doch gewiß peinlich, hereinzukommen, wenn wir Besuch haben – wenn der Fähnrich kommt!“ setzte sie stockend hinzu.

Die Mutter sah sie groß an.

„Ach so!“ sagte sie dann gedehnt, „nein, nein – bemühe Dich nicht! ich will ihn auch sehen – er wird es schon überleben!“

Mit stillem Kopfschütteln und heimlicher Belustigung beobachteten die Eltern die unendlichen Vorbereitungen, die Hänschen für den erwarteten Besuch des Fähnrichs traf.

Erstens erschien sie, trotz des eiskalten Oktobertages, in einem weißen Kleide, was sie sonst immer unter Erstickungspantomimen als „zu eng“ verworfen hatte, trug einen Zweig roter Vogelbeeren im Gürtel und war tadellos glatt gekämmt.

Auch schnitt sie unmittelbar vor Tisch die letzten Monatsrosen und Astern ab, füllte alle Vasen und Schalen mit frischen Blumen und wischte freiwillig den Staub vom Klavier – ein noch nie dagewesenes Ereignis, das allgemeine Rührung und laute Rufe der Verwunderung hervorrief.

Der Assessor, der schon zu Mittag erschien, bemerkte mit einem überraschten Blick auf den dekorierten Tisch: „Nun, das sieht ja so festlich aus!“

„Alles der Fähnrich!“ sagte der Vater und rieb sich die Hände. „Sehen Sie nur, Assessor – sogar die weiß gekleidete Jungfrau fehlt nicht zum Einzug.“

„So, so!“ meinte der Assessor neidisch und verwundert. – Um fünf Uhr erschien der Erwartete mit militärischer Pünktlichkeit.

Hänschen, die das Sporenklirren im Flur hörte, stürzte ins Nebenzimmer und zwickte sich vor dem Spiegel in beide Backen, weil sie sich zu blaß vorkam. Dies Backenzwicken erwies sich übrigens als unnötig, da ihr Gesicht sofort beim Eintritt des jungen Herrn vor Verlegenheit bis zu päonienhafter Röte erglühte, und sie nur im stillen hoffte, daß sie abgeblaßt sein würde, bis sie sich aus dem tiefen Tanzstundenknix wieder nach oben gefunden hätte.

Kurz, Hänschen war wie ausgetauscht! Der Assessor sah mit wachsendem Ingrimm auf diese schüchterne, mädchenhafte Knospe, die mit niedergeschlagenen Augen am Kaffeetisch hantierte und der Mutter mit einem flehenden Blick das Einschenken abnahm. Bei einem emporlodernden Zank mit Lottchen, die ein von beiden Schwestern begehrtes Anisplätzchen mit dem Motto: „Gewalt geht vor Recht“ – an sich riß, gab Hänschen sogar mit sanfter Lieblichkeit nach, was die Mutter dazu bewog, den Fähnrich innerlich zu segnen.

Als man die Mahlzeit beendet hatte, räumte Hänschen das Kaffeegeschirr ab und erschien sogar, was doch sonst gar nicht ihr Fall war, als still waltendes Wesen mit der Krümelbürste, um die letzten Spuren des Kuchens wegzufegen. Dieser Anfall akuten Häuslichkeitstriebs hatte übrigens furchtbare Folgen, denn die Mutter bemerkte laut und gefühllos: „Du kehrst die Krümchen ab? Das ist auch wahr, das kannst Du jetzt immer machen!“ was nicht gerade in der Absicht der häuslichen Tochter gelegen hatte, aber von diesem Tage an erbarmungslos durchgeführt wurde, mit der boshaften Bemerkung bei Unterlassungssünden: „Die Krümchen liegen ja noch da – ich muß wohl den Fähnrich holen!“

Und er, der all’ dies Herrliche vollendet? Der Fähnrich? Er war ein hübscher, fixer Junge in einer entzückenden, blauen Husarenjacke, mit zwei so absolut in der Schattierung dazu passenden Augen, daß man im Zweifel hätte sein können, ob er sich die Augen nach der Jacke, oder die Jacke nach den Augen ausgesucht hatte. Nebenbei trieb er wahrhaft königliche Verschwendung mit der für Hänschen absolut neuen und darum doppelt bezaubernden Wendung: „Befehlen, gnädiges Fräulein?“, machte erfolglose, aber anmutige Versuche, einen Zukunftsschnurrbart zu drehen und klirrte in hinreißender Weise mit den Sporen – kurz, es war kein Wunder, daß er einen unermeßlichen Einfluß auf seine Umgebung ausübte! –

Nach dem Kaffee machte die Mutter den beglückenden und auf tiefes Verständnis der Situation begründeten Vorschlag: „Die Jugend geht jetzt wohl noch etwas in den Garten!“ und enthob diese Jugend dadurch der lähmenden Gegenwart der Autoritäten.

Vom Fenster aus sahen die Eltern lächelnd zu, wie Hänschen ein heimlich von der Mutter entlehntes rotes Seidentuch sehr kleidsam über das weiße Gewand geworfen, sittsam an der Seite des Fähnrichs in den Gängen promenierte, von Lottchen und Karl gefolgt, die Mund und Ohren aufsperrten, um kein Wort der gewiß höchst interessanten Unterhaltung zu verlieren. – Nach einer Weile wendete sich der Vater nach dem Assessor um, der ungewöhnlich schweigsam war.

„Nun, lieber Freund? Wollen Sie sich nicht der Jugend anschließen?“

„Ich weiß nicht“ – erwiderte zögernd der Angeredete, der noch vor acht Tagen diese Zumutung als eine entschiedene Verkennung seines geistig reifen Standpunktes würde angesehen haben.

„Nun, wie Sie wollen,“ sagte unbefangen der Vater, dem, wie jedem Manne, Seelenvorgänge wie des Assessors Verstimmung so lange unkenntlich blieben, bis er, wie der Volksmund sagt, „mit der Nase darauf gestoßen wurde“. „Dann lesen wir älteren Leute etwas! Ich habe da eine Broschüre über die Fortschritte der Elektrotechnik, die höchst interessant zu sein scheint!“

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