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auf denen die romantische Rudelsburg und die zerfallenen Türme der Saaleck liegen, dort, in dem villengeschmückten Badeorte Kösen, geht von der Thüringer Hauptbahn eine Zweiglinie ab, im Volksmunde scherzhaft die „Pfeffermünzbahn“ genannt. Sie führt vorüber an dem blutgetränkten Schlachtfelde von Auerstädt und dem idyllisch gelegenen Eckartsberga nach dem Städtchen Cölleda. Nur etwa eine Stunde von diesem Orte entfernt liegt das Dorf Rettgenstedt, wo der alte Tischler Kaufmann wohnt. Neben dem Stellmacherhandwerk, das er in seiner Jugend erlernte, blies er gern das Horn, und so zog er im Frühjahr 1814 als Hautboist des 31. Infanterieregiments „nach Frankreich hinein“. Mit Vater Schmidt zusammen half er Maubeuge belagern, die kleine aber wichtige Sambrefestung, deren sich der Reisende erinnern wird, der einmal von Köln aus durch Belgien eine Fahrt nach der französischen Hauptstadt gemacht hat. Es war ein harter Winter, der Winter von 1813/14, der seinem berüchtigten Vorgänger vom Jahre 12 an unwirtlicher Rauheit nur wenig nachgab. „Er (der Vater Kaufmann) hat uns oft erzählt,“ teilt mir in einem mit echt thüringischer Herzlichkeit geschriebenen Briefe der Sohn mit, „daß er manche Nacht im Schnee gelegen. Und öfters Tage, ohne Nahrung, von Branntwein hätte leben müssen.“ Auch hatte Kaufmann den Kummer, während des Feldzugs seinen Vater zu verlieren. In seinem Besitze befindet sich noch eine Marschroute. Er hat jeden Ort und jedes Quartier auf dem Hin- und Rückmarsche sorgfältig verzeichnet. Lange Zeit nach seiner Heimkehr lernte er, noch im Alter von vierzig Jahren – er ist am 4. Januar 1794 geboren – das Tischlerhandwerk. Nebenher betrieb er etwas Ackerbau. Fleißig hat er mit dem Hobel gearbeitet, ein anspruchsloser und enthaltsamer Mann, der geistige Getränke verabscheute und sich nicht einmal den bescheidenen Genuß des Pfeifchens erlaubte. Im Alter von einundvierzig Jahren verheiratet, konnte er mit seiner Gattin das schöne Fest der goldenen Hochzeit, begehen. Doch hatte der alte Mann im Vorjahre das Unglück, die 83jährige treue Gefährtin seines Lebens zu verlieren. Dieser Verlust hat ihn um so tiefer ergriffen, als auch sein Körper durch eine schwere Lungen- und Rippenfellentzündung, die er im letzten Augustmonat zu überstehen hatte; geschwächt war. Dennoch hat sich der Hundertjährige wieder erholt, wozu die Pflege seiner braven Kinder Und Kindeskinder ihr gutes Teil beigetragen hat. Herr Tischlermeister Wilhelm Kaufmann schreibt mir, daß sein alter Vater bei dem Empfang der Ehrengabe des deutschen Volkes aufs tiefste bewegt gewesen sei.

Wieder müssen wir einige Dutzend Meilen Landes überfliegen, wenn wir dem vierten unserer alten Krieger, Herrn Rentner Gottlieb Nölte, einen Besuch abstatten wollen. Dieser wohnt auf einem bäuerlichen Gehöfte in Neuholland bei Liebenwalde im Havelland. Geboren in der Stadt Liebenwalde am 10. August 1796 als der Sohn eines Ackerbürgers gleichen Namens, mußte er schon im zwölften Lebensjahr – es war in der Zeit nach den Schlachten bei Jena und Auerstädt – für die französischen Truppen Kriegsfuhren leisten. Noch nicht siebzehn Jahre alt, wurde er zur 3. Kompagnie des 3. Bataillons des 3. kurmärkischen Landwehr-Infanterieregiments eingezogen. Auch dieses Regiment gehörte zur Nordarmee der Verbündeten. Gottlieb Nölte ist also in engerem Sinne ein Kriegskamerad des alten Schmidt. Sein Regiment stand unter dem Kommando des Oberstlieutenants v. d. Marwitz bei der Division v. Hirschfeld, die zum 4. Preußischen Armeekorps (Graf Tauentzien) gehörte; der Bataillonskommandeur war ein Kapitän v. Laviere. Wenn Frau Witwe Bartel, Vater Nöltes Tochter, die mir gleichfalls in sehr liebenswürdiger Weise über ihren Vater geschrieben, von Gefechten bei Havelberg redet, denen der alte Krieger beigewohnt, so ist dies, wie ich mir zu bemerken erlaube, eine offenbare Verwechslung mit dem Orte Hagelberg bei Belzig, wo Generallieutenant von Hirschfeld am 27. August den französischen General Girard schlug, der aus Magdeburg ausgerückt war, um die linke Flanke der gegen Berlin operierenden Armee des Marschalls Oudinot zu sichern. Es ist dies die bekannte Kolbenschlacht bei Hagelberg, in welcher mehrere französische Bataillone von den kurmärkischen Landwehren, fast ganz ohne Gebrauch der Feuerwaffe, mit Bajonett und Kolben überwältigt wurden.

Gottlieb Nölte rückte dann vor Wittenberg, machte in Tauentziens Korps den Gewaltmarsch nach Berlin (14. und 15. Oktober) mit und gehörte später zu den Belagerern von Magdeburg, welches von dem französischen General Lemarois aufs tapferste verteidigt und erst im Mai 1814, nach der Anerkennung König Ludwigs XVIII., übergeben wurde. Aber schon geraume Zeit vorher war unser Nölte mit einem Teile des Tauentzienschen Armeekorps abmarschiert, um bei der Belagerung der Festung Wesel verwendet zu werden, die sich gleichfalls sehr lange, bis zum 10. Mai 1814, gehalten hat. Auch das Jahr 1815 rief den wackern Kurmärker wieder unter die Waffen. Diesmal gehörte sein Regiment zur 11. Brigade (Luck) und stand bei dem 3. preußischen Armeekorps, mit welchem General v. Thielmann am 16. Juni an der Schlacht von Ligny teilnahm, während er zwei Tage später, an dem denkwürdigen 18., den französischen Marschall Grouchy bei Wavre festhielt, wodurch den Verbündeten der Sieg von Waterloo gesichert wurde. Nach dieser Schlacht zog Nölte mit dem siegreichen Heere in das innere Frankreich und gegen Paris. Der alte Nölte klagt noch heute viel über die mangelhafte Verpflegung der Verwundeten zu damaliger Zeit, eine Klage, deren Berechtigung aus den Mitteilungen anderer Teilnehmer an den großen Feldzügen durchaus bestätigt wird. Wenn der biedere Alte hinzufügt, daß jetzt alles viel besser geworden sei; so darf ja wohl auch dieses in vielen Punkten zugegeben werden.

Nach der Rückkehr in die märkische Heimat wurde Gottlieb Nölte Schiffsbauer und betrieb später in Berlin einen Butter- und Käsehandel. Fast volle vierzig Jahre, von 1825–1864, lebte er in glücklicher Ehe; dann zog er, nach dem Tode seiner Frau, zu seiner erwähnten Tochter, die in Neuholland bei Liebenwalde verheiratet ist. Hier wohnt er nun schon wiederum seit dreißig Jahren, hat mehrere Enkel und zwanzig Urenkelkinder, ist körperlich noch recht rüstig, wenn auch sehr schwerhörig, und spaziert noch allein durch Haus und Hof und Garten.

Und nun kommt in der Reihenfolge als letzter der jüngste unserer Veteranen. Auch er hat schon das stattliche Alter von 96 Jahren erreicht. Ist er der jüngste und hat er, infolge seines damals noch sehr jugendlichen Alters, als Sechzehnjähriger nur an dem Feldzuge von 1815 teilnehmen können, so ist er im späteren Leben zu höheren Ehrenstellen emporgestiegen als einer seiner noch lebenden Kameraden. Mit gerechtem Stolze dürfen freilich auch, Vater Schmidt und Papa Nölte auf ihre einfachen alten bronzenen Kriegsdenkmünzen von 1813/15 blicken; Herr v. Baehr trägt außerdem das Ritterkreuz des Hausordens von Hohenzollern; Excellenz Neumann aber ist mit einer ganzen Reihe von Ordenszeichen geschmückt. Geboren am 11. September 1798 in Joachimsthal bei Berlin, trat Franz Neumann, damals Schüler eines Berliner Gymnasiums, im Jahre 1815 als freiwilliger Jäger in das Colberger Regiment. Mit diesem machte er den Feldzug in Belgien mit. In der mörderischen Schlacht bei Ligny wurde er durch Oberkiefer und Zunge geschossen und mußte zurück nach Düsseldorf gebracht werden, wo er wiederhergestellt wurde. Dann hat er noch an der Belagerung der Festung Givet teilgenommen, welche General Bourke, im Vorjahre der Kommandant von Wesel (vergl. oben), ein ritterlicher alter Haudegen, nach Napoleons zweiter Abdankung noch bis zum Abend des 9. September gegen die Verbündeten verteidigte.

Aus dem jugendlichen Krieger Franz Neumann, der von der Schulbank aufgestanden war, um das Gewehr auf die Schulter zu nehmen, wurde ein ernster Mann der Wissenschaft. Nach vollendetem Studium der Naturwissenschaften wurde er in der alten Haupt- und Residenzstadt Königsberg Privatdocent und im Jahre 1829 ordentlicher Professor der Physik und Mineralogie. Hohe Auszeichnungen haben ihm, wie gesagt, nicht gefehlt. Heute ist dieser Nestor der Wissenschaft Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Excellenz; aber stolz ist er, wie ich einem Briefe von Fräulein Louise Neumann, seiner Tochter, entnehme, einzig und allein auf den Professortitel, „das übrige betrachtet er in seiner Bescheidenheit als zuviel Ehre“. Leider ist der würdige alte Herr, dessen drei Söhne gleich ihm hervorragende Gelehrte und Universitätsprofessoren sind – Carl, der Mathematiker, in Leipzig, Ernst, der Mediziner, in Königsberg, Julius, der Nationalökonom, in Tübingen – schon seit längerer Zeit krank. Auch an dem 350jährigen Jubelfeste der Königsberger Universität, das im vorigen Sommer gefeiert wurde, konnte der alte Geheimerat nicht mehr persönlich teilnehmen. Doch fuhr Prinz Friedrich Leopold von Preußen, der zu dem Feste nach Königsberg gekommen war, vor dem Hause des greisen Gelehrten vor, um ihm seinen Besuch abzustatten. Auch ein Kriegskamerad aus den Kriegen von 1813/15 hatte zu Lebzeiten den alten Herrn ganz besonders ausgezeichnet; es ist kein Geringerer als Kaiser Wilhelm I.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1895, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_156.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)