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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Marei mußte sich wieder verstellen. Wäre sie überrascht worden, sie wäre in hellen Jubel ausgebrochen, so fühlte sie sich befangen und stotterte einige unbehilfliche Worte.

Der Bürgermeister verließ kopfschüttelnd das Haus und machte sich seine eigenen Gedanken, die für Loni nicht günstig waren.

Erst als sich Marei mit der Mutter allein sah, schwand die Beklemmung, sie fiel ihr stürmisch um den Hals, ohne in ihrer Erregung über die verfrühte Ankunft des Briefes nachzudenken. Sie war ganz Jubel, ganz Hoffnung. Und zum Willy wollte sie reisen – sofort, daß er die frohe Kunde zuerst von ihr selber erfahre. Aber Loni hielt sie zurück. Jede Stunde, die der Forstwart unbenachrichtigt blieb, erschien ihr ein wichtiger Vorsprung für Anderl.

Marei fand sich darein, sie war ihr völlig zu Willen; liebkosend umarmte sie die Mutter und suchte ihr die neue Sorge von der Stirn zu küssen. „O, i weiß, was Du mir für an Opfer bracht hast, daß D’ den Anderl gern g’habt hast, daß Du ihn mir z’liab aufgeb’n hast! Und mein ganz’s Leb’n will i Dir’s danken und der Willy g’wiß aa! Alles woll’n wir thuan, um Dir die Liab z’ ersetz’n, die Du für uns einbüaßt hast! Du liab’s guat’s Mutterl, Du!“ Es war das erste Mal, daß ihr diese Empfindung so direkt auf die Lippen trat. Und Loni wehrte sich nicht gegen die Annahme ihres Kindes, es that ihr wohl, sich von ihm verstanden zu wissen.

Marei hielt es nicht in der Stube, sie mußte hinaus, ihr Glück den Blumen und Bäumen mitteilen, den Kühen und Pferden im Stall, den Hühnern und Tauben. Und Loni blieb allein mit ihren Gedanken, die wieder zu Anderl zurückkehrten. Warum hat er schon von Hamburg die Selbstanzeige geschrieben? Wenn man ihn nun doch verfolgt! Wenn sie auf dem Gericht erfahren, mit welchem Schiff er hinüber ist! Dann fassen sie ihn drüben ab! Im Marienkalender stand das alles genau. Aber – er ist gar nicht übers Meer, kam’s plötzlich über sie, er geht überhaupt nicht hinüber – er mag nicht fort ohne sie, es treibt ihn zurück zu ihr – er mißtraut ihr – er kommt, sie zu holen! Ein Schauer erfaßte sie. „Heiliger Gott!“ Gerad eben hat sie sich’s fest vorgenommen ihm abzuschreiben, sobald sie seine Adresse erfahren, als das blonde Haupt der Tochter an ihrer Brust gelegen. – – Aber wenn er sie holen kommt? Sie bebte bei diesem Gedanken und suchte ihn abzuschütteln. Wie wird er denn zurückkommen, sich der Gefahr aussetzen, nachdem er sich schuldig bekannt und wo sollten sie Zwei dann Zuflucht finden? Das alles hielt sie sich vor – vergebens!

Sie sah ihn von weitem nahen über die Schneiden der Berge, durch Wälder und Thäler.

Mit der sinkenden Sonne wuchs ihre Angst, ihr Unbehagen.

Marei ging früh zu Bett, sie wollte noch vor Tagesanbruch sich aufmachen zu Willy. Noch einmal dankte sie der Mutter unter Thränen und rief des Himmels Segen auf sie herab. Sie schlief jetzt in der Kammer, welche früher Anderl bewohnte, die frische Luft, die in der Bodenkammer herrschte, that ihr wohl. Loni saß allein in der Stube. Unter dem Ansturm der Gedanken, die sie beunruhigten, fürchtete sie sich vor der Nacht, und doch mochte sie Marei nicht bitten, ihr Gesellschaft zu leisten. Wenn der Anderl schon heute –

Da kam der Flori über die dämmerigen Wiesen eilig herangehumpelt. Noch nie war er ihr seit Jahren so willkommen gewesen.

„Wird Dir net liab sein, mein B’such,“ begann er, „aber i muaß G’wißheit hab’n. Hat er wirkli’ g’schrieb’n, der Anderl? Jetzt schon?“

„Ja, er hat g’schrieb’n,“ erwiderte Loni. „Von Hamburg aus. Er wird wohl von da aus ’nüber g’fahr’n sein,“ setzte sie unsicher hinzu.

„Schwerli! Sonst hätt’ er scho’ g’wart’ mit’n Schreib’n; bis er drüben g’wes’n wär’. Findst’s net aa b’sonders?“

„Er hat halt ’s Marei net länger wart’n lass’n woll’n,“ beschwichtigte Loni die eigene Besorgnis.

„Meinst? Für so gutmütig haltst D’ ihn?“

„Was soll er denn sonst für an Grund g’habt hab’n?“

„Z’ruckkomma, Di z’hol’n!“

Loni fuhr auf. „Flori, des glaubst? Aber naa! I gang ja net, um alles net! Seit heut’ schon gar net!“ In ihrer Stimme zitterte ein weiches Gefühl. „Kannst Di no erinnern, was Du mir damals g’sagt hast in Dein’r Hütt’n? Daß’ aa no an andere Liab giebt, die glückli macht, als di i kennt hab’ bis jetzt! Heut’ hab’ i ’s g’fühlt, die Liab, als mei’ Marei so glücklich war – zum erstenmal – ganz!“

Flori trat näher. „Jetzt schon, Loni, jetzt schon? No dann – dann hat’s ka G’fahr mehr, nachher soll er nur komma! Aber des is ja no gar nix, des wird no’ ganz anders, wenn erst amal das Glück aufblüaht unter Deine Aug’n! Hat ’s a rechte Freud’ g’habt, ’s Marei? Ja, wo is’ denn? ’s is mir g’rad, als war’s mei eigen Kind! Wo is’ denn?“

Loni zögerte. Sie hatte Flori bitten wollen, die Nacht im Hofe zu bleiben. Seine Anwesenheit würde ihr Ruhe geben, sie schützen, wenn der Anderl schon heute kam’. Da war’s besser, sie verleugnete das Mädel, um ihre Furcht begreiflich zu machen. Den wahren Grund ihrer Angst mochte sie ihm nicht nennen. Und so sagte sie: „Sie hat sich net halt’n lass’n, heut’ no hat’s fortmüss’n nach Oberach zum Willy, um ihm die Botschaft z’bringen.“

Die Lüge erschien ihr nicht groß, vor Tagesanbruch ging Marei ja wirklich.

„Ja, das glaub’ i!“ erwiderte Flori lachend. „Wia do so a jungs Bluat wieder z’ Kraft kimmt beim erst’n Sonnastrahl, wia a halbverdurst’s Bleamerl!“

„Und da bitt’ i Di halt, daß D’ im Hof bleibst, heut’ nacht! Bin’s net g’wohnt, ’s Alleisein,“ fuhr verlegen die Bäuerin fort.

„Angst hast’ – Du, die Loni?“ Flori lachte.

„Des g’rad net, aber mir is halt a bisl schwer ums Herz. Schau, wenn man so viel g’litt’n hat wia i, nachher glaubst an ka Glück mehr, s’ is mir g’rad, als wär’ schon an neu’s Unglück unterwegs! Jessas! der Sturm auf aamal!“

Sie zuckte zusammen, so überreizt war sie von der heimlichen Aufregung. Der Föhn war plötzlich herabgestürzt vom Gebirg und rüttelte an den Läden und pfiff um den Dachfirst.

Flori sah hinaus. „Grob Wetter wird’s! Guat, i bleib’ auf ’n Hof. Leg’ Di nieder, Loni, und schlaf guat! I werd’ mir scho’ da herunt’ a Platzl z’recht mach’n.“

Sie wollte ihm danken, da überfiel sie plötzlich ein lähmendes Entsetzen. Wenn der Anderl jetzt zurückkehren würde und sie so allein träfe mit dem Flori! Der Gedanke machte ihr das Blut erstarren. Nun hätte sie um alles gern ihre Bitte zurückgenommen, aber sie wagte es nicht mehr. Flori hätte es anders auslegen können, als ob sie ihm nicht vertraue. Die Brust war ihr beklommen, sie erhob sich langsam.

„Ja, Du hast recht, Flori, i geh’ zur Ruah, bin so wia d’erschlag’n. Gut’ Nacht, Flori!“ Die Hand zitterte, die sie ihm reichte.

„Heut’ wirst guat schlaf’n und trama, gieb’ nur Obacht, vom Marei! Gut’ Nacht, Loni!“

Loni ging in ihre Kammer neben dem Stall. Ein bitteres Lächeln glitt um ihre Lippen. „Guat schlaf’n und trama!“ Währemd sie sich fürchtete vor der Nacht, wie noch vor keiner!

Der Sturm raste um das Haus. Die schadhaften Läden klapperten und schlugen gegen die Mauern, das Vieh im Stalle scharrte und rasselte mit den Ketten. Sie legte sich angekleidet auf das Bett. Den Arm unter dem Kopf, starrte sie in die finstere Nacht zum Fenster hinaus. Auf einen Augenblick erhellte sie sich. Es war ein gespenstisches Huschen und Haschen sich jagender Wolken am Himmel. Sie unterschied die Holzschupfe, die Wiesen, die schwarze Bergwand gegenüber. Das beruhigte sie. Sie dachte daran, wie sie zuvor sich gefreut hatte, als sie den Flori hatte daherkommen sehen. Wie doch alles anders gekommen wäre, wenn sie ihn damals geheiratet hätte, statt den Mentner! Aus Furcht vor der Armut hat sie es nicht gethan. Als wenn das Geld glücklich machte! Sie würden sich schon durchgebracht haben, und treue Liebe macht alles leichter. Bittre Reue erfüllte ihr Herz. Da – was war das? Auch nur der Wind – oder klopfte nicht jemand?

Sie beugte sich weit vor gegen das Fenster, aber ebenso schnell fuhr sie zurück. Aufächzend sprang sie vom Bette. Es klopfte wieder, jetzt gegen die Scheiben. – „Heilige Mutter Gottes!“ – Jetzt betete sie. – Dann trat sie vor.

„Loni!“ flüsterte es.

Es lief ihr kalt über den Rücken während ihr Gesicht glühte. So war also wirklich das Gefürchtete da – Anderl kam, sie zu holen!

(Schluß folgt.)


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