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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Und dies Herz ist das der zukünftigen Frau, die wieder eine Generation zu erziehen hat. Können wir etwas Besseres thun, als die Mütter zu bilden? Bei den Müttern liegen die Entwicklungskeime der Nation.

Neben der geistigen Förderung ist auch die des Körpers nicht gering anzuschlagen. Jedes Kind trinkt im Hort täglich 1/4 Liter Milch. Außerdem werden die Kinder im Sommer zum Baden im Fluß, im Winter zu Schlittschuhlaufen und warmen Bädern geführt. Jeder Hort hat Hof und Garten, in dem die Freistunden nach den Schularbeiten zugebracht werden, und die Freude an der Natur wird durch Pflegen eigner Beete und ihrer Pflanzen genährt. Ballspiel, Croquet und Seilspringen wird getrieben, und das alles, wenn auch unter Aufsicht, doch unter voller Freiheit der Bewegung, unter Berücksichtigung der besonderen Natur jedes einzelnen Kindes.

Die sittliche Notwendigkeit der Errichtung von Horten ist neuerdings vielerorts anerkannt worden. Als wir im Jahre 1887 in Leipzig den ersten gründeten, gab es deren erst wenige in andern Städten. Im Jahre 1890 aber gab es schon 36, die sich seitdem bedeutend vermehrt haben. Erst im nächsten Jahr wird eine neue Zählung stattfinden. Von uns ist zu meiner besondern Freude eine Anzahl von Töchteranstalten ausgegangen, die nach unserm Muster eingerichtet sind: u. a. in Königsberg, Straßburg und Hamburg. Sie werden meist von der städtischen Behörde wohlwollend unterstützt, die Ausgaben für sie durch freiwillige Beiträge gedeckt. Auch in Leipzig ist der Rat der Stadt der guten Sache gewogen, leider aber durch das überbürdete Budget nicht mehr so geneigt, uns Erleichterungen zu bewilligen, die sich mit jedem neuen Hort verringert haben. Zu den ersten Anstalten wurden uns aus der Stiftung eines Menschenfreundes reichliche Beiträge gespendet. Im ersten Hort wohnen wir nicht nur frei, wir erfreuen uns auch kostenloser Heizung und Beleuchtung. Der zweite Hort, in der Alexanderstraße, genießt wohl auch freies Logis, das uns auch sauber hergerichtet wurde, aber leider weder freies Licht, noch freie Heizung. Der dritte endlich, in der Glockenstraße, zu dessen Gründung am 15. Oktober v. J. wir uns im vergangenen Frühjahr durch einen Bazar die Mittel verschafft haben, die der hilfsbereite Sinn unsrer Mitbürger reichlich spendete, ist sehr stiefmütterlich behandelt, er bezieht weder Zuschuß von der Stadt, noch sind uns die Räume in der Schule bewohnbar überlassen worden, natürlich sind auch Licht und Heizung nicht kostenfrei. Wir sind mit der Erhaltung dieses Hortes ganz auf das Wohlwollen unsrer Freunde und Gönner angewiesen, und gerade diese dritte Anstalt hat sich als die am dringendsten begehrte, als die notwendigste erwiesen. Denn bei der Anmeldung war die festgesetzte Zahl von 42 Schülerinnen rasch überholt, und bei der Eröffnung hatten wir nicht weniger als 35 Vormerkungen.

Das Prinzip wird streng festgehalten, nur Kinder solcher Eltern aufzunehmen, die nachmittags außer dem Hause beschäftigt sind. Die Aufnahme geschieht nach persönlicher Anmeldung der Mutter unter Vorlage einer Bescheinigung, daß sie in Arbeit steht. Für jedes Kind sind wöchentlich 10 Pfennig zu zahlen, um den Schein des Almosens abzuwenden. Unsere Ausgaben belaufen sich durchschnittlich auf 1400 Mark für den einzelnen Hort, wovon allein 400 Mark die Milch beansprucht. Die Leitung jeder Anstalt liegt drei Damen ob, die sich monatlich in der Beaufsichtigung ablösen; für die Aufnahme, die Helferinnenverteilung und die Finanzverwaltung bestehen besondere Aemter. Klein haben wir angefangen: vor sieben Jahren hatten wir 1 Lehrerin, 12 Helferinnen, 4 Vorstandsdamen. Jetzt haben wir 4 Lehrerinnen (im ersten Hort wechseln zwei Schwestern mit einander ab), 42 Helferinnen und 9 Vorstandsdamen.

Ich lade nunmehr den Leser ein, mich im Geist bei einem Besuch in einem unsrer Horte zu begleiten. Ich wähle dazu den ersten, als unser ältestes Kind! Die Räume liegen im Parterre der achten Bürgerschule an der Scharnhorststraße; beide sind groß und hell; einer wird als Schulzimmer benutzt und dient, mit Subsellien versehen, zum Aufenthalt während des Fertigens der Schularbeiten; der andere Raum ist von uns als Kinderzimmer hergerichtet.

Wenn wir hineintreten, sitzen auf acht Bänken vor vier hübschen gelb lackierten Tischen unsre 42 Kinder. Sie stehen auf, uns zu begrüßen, denn sie lernen hier, was sich schickt. Jedes Kind hat vor sich einen Becher mit guter abgekochter Milch, zu dem es das selbst mitgebrachte Brot verzehrt. Nicht alle Kinder wissen dies vorzügliche Getränk zu schätzen; ja manche kannten es nicht – sie waren nur an „Blümchenkaffee“ gewöhnt. Aber sie lernen es alle mit der Zeit liebgewinnen. Das letzte übrig gebliebene Tröpfchen findet noch seinen Liebhaber. Von allen Größen sehen Sie die Schülerinnen! Große vierzehnjährige, die bald konfirmiert werden, und allerliebste kleine sechsjährige Pusselchen, die kaum an den Tisch reichen. Sie erstaunen, wie reinlich die Kinder aussehen, nicht wahr? Sofort, als sie kamen, mußte sich jedes die Haare glätten, die Hände waschen, sogar die Nägel berücksichtigen, was ihnen beim Eintritt meist ein neuer Gesichtspunkt der Reinlichkeit war. Dann wurden ihnen die hübschen einfachen Kinderschürzen der Anstalt vorgebunden.

Die Kinder sind gesättigt, nun ruft die Pflicht: einige Mädchen, größere und kleinere gemischt, besorgen das Abwaschen der Milchkannen und Becher; es ist höchst lustig, zu sehen, wie gern sie mit Wasser und Bürste hantieren und wie sie beim Scheuern der Holzgefäße und Aufwischen des Bodens treu ihre Mütter nachzuahmen bemüht sind. Der größte Teil der Mädchen geht nun in das Schulzimmer, um Schularbeiten unter Aufsicht der lieben Helferin zu machen, die zuerst für Ruhe und Stille sorgt, nachher die schriftlichen Arbeiten durchliest, die mündlichen abhört. Da giebt es manche Thräne, manchen Seufzer der armen Kleinen, wenn die Arbeit als ungenügend zurückgegeben oder der Mangel an Sauberkeit streng gerügt wird. Denn es ist Grundsatz bei uns, die Mädchen anzuhalten, daß, was sie thun, sie auch gut thun, verlottert doch nichts den Menschen so als schlecht ausgeführte Arbeit.

Aber stören wir die Kinder nicht länger bei ihren Pflichten; gehen wir zurück ins Spielzimmer, wo schon diejenigen Schülerinnen sich mit Handarbeit beschäftigen, die mit ihren häuslichen Aufgaben fertig sind. Frisches Leben herrscht hier unter den Augen unsrer vortrefflichen Lehrerin, die jede gesittete Fröhlichkeit liebt, die aber mit der ruhigsten, freundlichsten Miene ihren Befehlen einen Nachdruck zu geben weiß, der jede Widerrede ausschließt. Jede Mutter könnte sie um ihre pädagogischen Talente beneiden, aber auch um ihre Geduld; unzählig sind die Ansprüche und Anforderungen an sie. Da kommen drei kleine lustige Dinger, etwas schüchtern, aber mit lachendem Gesicht. „Fräulein, wir möchten gern mit den Puppen spielen“ – ein freundlicher Wink – sie laufen an den Spielschrank, aus dem die herrlichen Geschöpfe entnommen werden, der Puppenwagen dazu. Indes kommt schon wieder die Frage: „Wie soll ich den Knopf annähen?“ und die flehenden Worte: „Ach, Fräulein, ich habe zwei Maschen fallen lassen.“

Dort an jenem Tisch wird gebaut, am andern gemalt, wobei alte Modenbilder, Bücherkataloge oder ähnliche Schätze mit Freuden zu Vorlagen verwendet werden. Am letzten Tisch sitzen die großen Mädchen, flicken sich Jacken und Schürzen und Singen ein mehrstimmiges Lied dazu, das herzerfreuend klingt in seiner Frische.

Aber dort in jener Ecke, welch ein Fleiß von Klein und Groß, mit hochroten Bäckchen sitzen sie da, das ist das sicherste Zeichen der Weihnachtsarbeiten! Denn Sie müssen wissen, unsre Kinder haben seit Michaelis füreinander auf Weihnachten gearbeitet wie Schwestern in der Familie! Nur die Zuthaten sind geschenkt, gefertigt wurde alles von den kleinen Händen. Welch kindliche Wichtigkeit beim Erwägen der Frage, ob der rechte Strumpf, den Lina gestrickt hat, zusammen mit dem linken, den Klara gefertigt, wohl für die Freundin bestimmt wird, oder die Kapuze mit rotem Futter, der Stolz der Bescherung! Die weise Fürsorge der Lehrerin, die alle häuslichen Verhältnisse ihrer Pflegebefohlenen kennt, ordnet und bestimmt das alles für die Bescherung.

Nach und nach ist die Schulstube leer geworden, die Schultaschen sind zum Schluß an die Wand gehängt; es ist 6 Uhr, und die letzte Stunde darf zu Bewegungsspielen oder zum Vorlesen verwendet werden.

Wäre es Sommer, so würden wir jetzt mit den Kindern hinausziehen in den Garten; fest in Kolonnen geordnet, würde die kleine Schar warten auf ihre Lehrerin, die dann an die Spitze des Zuges tritt. Aber wir müssen heut’ zu Hause bleiben, denn es ist schlechtes Wetter; trübe und dunkel ist es draußen auf der Straße – ein rechter Gegensatz gegen die Helle und Wärme, gegen die Fröhlichkeit da drinnen. Nun werden Tisch und Stühle beiseite geschoben, unter Gesang werden die lustigen Ringeltänze, die Kindergartenspiele aufgeführt, „Katze und Maus“ und „Dritten abschlagen“ wecken besondern Jubel, vollends wenn die Helferin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_139.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)