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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Es ist ein kleiner schweinslederner Band mit allerhand zierlichen Pressungen, der vor mir liegt. Er ist zu Paris im Jahre 1576 erschienen und enthält die Memoiren eben dieses Philippe de Comines, in welchem er das Zeitalter des elften Ludwigs schlicht und besonnen schildert. Dieses Buch ist die ausgiebigste Quelle für die Geschichte jener Zeit geworden; freilich schrieb um die Mitte des 18. Jahrhunderts Herr Duclos, ein stolzes Mitglied von Akademien und gelehrten Gesellschaften, gleichfalls eine Biographie des elften Ludwigs, die dessen Charakter weit günstiger schildert; aber er handelte dabei im Auftrage des Ministers Maurepas, der im Interesse des Königtums in Frankreich diesen Rettungsversuch für gut hielt.

Der keineswegs unbedeutende Monarch bethätigte den grausamen Grundzug seines Charakters schon, bevor er den Thron bestieg. Denn bereits als Dauphin eröffnete er die Reihe seiner Thaten damit, daß er die vertraute Freundin und Geliebte seines Vaters, die schöne und kluge Agnes Sorel, an welcher der König mit schwärmerischer Neigung hing, beiseite bringen ließ, nicht aus sittlicher Entrüstung, sondern um einen ihm unbequemen Einfluß zu beseitigen. Seinem willensschwachen Vater gegenüber zeigte er sich auch sonst als ein vollkommen herzloser, seinen egoistischen Zielen mit brutaler Rücksichtslosigkeit nachjagender Sohn, der zu verschiedenen Malen den Versuch machte, ihn vom Thron zu stürzen. Indessen, das kommt in den Annalen der Geschichte öfter vor. Seltener ist damit ein Charakter von so erstaunlicher Grausamkeit und Tücke verbunden wie der dieses elften Ludwigs. Er hat nicht in so großem Stile gelebt und gewürgt wie die römischen Cäsaren, aber auch er ist als einer der großen Verbrecher auf Königsthronen anzusehen wie die Nero und Tiberius, wie der ihm wahlverwandte Richard III. und so mancher andere, der die ihm gegebene Herrschermacht mißbrauchte, um die „Wollust der Grausamkeit“ in immer neuen Formen auszukosten.

Aber von den großen politischen Verbrechern scheidet ihn schon der Umstand, daß sie meist auch den Feinden im Felde gegenüber gestanden und Schlachten geschlagen haben, während Ludwig, eine durchaus unkriegerisch veranlagte Natur, seine Erfolge in höherem Maße durch Worte erzielte, durch Gesandtschaften und Verträge, durch Briefe und Unterredungen und, wenn es darauf ankam, durch Gewaltakte, die aber einen kleinlichen heimtückischen Charakter haben und von privaterer, intimerer Art sind als die der großen Usurpatoren.

Es ist bezeichnend, daß Ludwig in seinem ganzen Leben rundweg zwei Schlachten geliefert hat, und daß er dabei doch das Land, über welches er herrschte, in so außerordentlichem Maße vergrößerte. Seine politischen Verdienste – das sei hier rasch abgethan – bestehen darin, daß er in einem vielfach hinausgezögerten Kriege mit den großen Vasallen seiner Krone ihre Macht brach und ihre Lehen seinem unmittelbaren Besitz einverleibte; daß er den verwegenen Herrscher von Burgund, Karl den Kühnen, zu Fall brachte und so ein Herzogtum gewann; endlich daß er durch eine schlaue Heirat, zu welcher er seinen Sohn zwang, auch die Bretagne dem Länderbestande, über den die französischen Könige geboten, einverleibte. Kurzum: er hat sein Königreich groß gemacht, und die Franzosen haben nach dieser Richtung in der That allen Grund, ihm dankbar zu sein.

Uns aber reizt natürlich mehr, den Menschen in ihm zu betrachten als den Politiker. Denn wenn er als Staatsmann an Bedeutung immerhin viele seinesgleichen hat, so steht er, rein psychologisch angesehen, ziemlich isoliert da.

Der bezeichnendste Zug an ihm ist eine höchst eigenartige Verbindung der grausamsten Tücke mit Frömmigkeit und religiöser Devotion. Auf seinem Hute und an seinen Gewändern pflegte er kleine bleierne Heiligenbilder zu tragen. Und es scheint, daß seine Frömmigkeit nicht bloße Heuchelei gewesen ist. Er hatte die bestimmte Empfindung, daß er alle Ursache habe, bei seinem Lebenswandel den Himmel fleißig um Vergebung zu bitten. Aber das tigerhafte Element in ihm war zu stark, um diesen Wandel selbst zu ändern. Dabei hatte er immer zwei Eidesformeln zu seiner Verfügung, eine gültige und eine ungültige. Zwei Aussprüche sind es besonders, die den Mann kennzeichnen: „Wer nicht zu heucheln versteht, versteht nicht zu herrschen“ und „Wenn meine Mütze meine Geheimnisse wüßte – ich würde sie verbrennen.“

Ein Menschenleben sah er ungefähr wie eine Mütze an. In seiner nächsten Umgebung hatte er stets die nötigen Hilfskräfte bei der Hand, um einen Unbequemen rasch ins Jenseits zu befördern. War es Haß gegen die Großen, die ihn bekämpft hatten, war es lediglich Freude am Niedrigen: er wählte zu seinen vertrautesten Dienern, die fast die Stelle von Freunden einnahmen, mit Vorliebe Leute aus der Hefe des Volkes.

Besonders nahe steht ihm im Leben ein ehemaliger Barbier, welcher die Dienste des Bartscherens beim Könige gewohnheitsmäßig noch täglich verrichtet, Herr Olivier, dem das Volk den freundlichen Beinamen „der Teufel“ verleiht. Er gehört zu den Wenigen, denen sich der König anvertraut. Ludwig verwendet ihn sogar zu diplomatischen Sendungen, und es ist ergötzlich zu lesen, wie der Barbier einst vor der Prinzessin von Burgund und dem Herzog von Cleve in Gent als Gesandter erscheint, und wie der Gesandte von ihnen verlacht wird, da man weiß, daß er ja bloß ein kleiner Bartkratzer aus einem Dorfe ist. Aber Herr Olivier war eine unheimliche Gestalt und nicht immer zum Spaßen aufgelegt. Wenn er seinem Herrn den Rat erteilte, den oder jenen zu „entfernen“, weil er das oder dies begangen habe oder doch begehen könne, so war der also Bezeichnete sicher, demnächst um eines Hauptes Länge verkürzt zu werden.

Der Vollstrecker des Urteils aber, das meist ein durchaus „inoffizielles“ war, stand in der Person des rohen Tristan l’Hermite zur Verfügung; er war ein brutaler Patron, mehr Henkersknecht als Gerichtsbeamter, von dem selbst der höfliche Duclos gesteht, daß er sich nicht daran genug sein ließ, die „Aufträge“ Ludwigs zu vollführen sondern gern aus freien Stücken ein Uebriges that und mit „barbarischer Lust“ seines düsteren Amtes waltete. Er liebte es, mit seinen Opfern zu spielen wie die Katze mit der Maus. Mit der Schar seiner Menschenjäger streifte er in der Umgebung der königlichen Schlösser umher und ließ, was ihm verdächtig schien, an den nächstgelegenen Bäumen aufknüpfen. Im Privatleben von finsterer Verschlossenheit und starrem Ernst, trieb er sein Handwerk mit cynischem Humor und schrecklichen Späßen.

Der König war mit diesem Entmenschten innig befreundet.

Wenn der Barbier seine rechte Hand war, war der Henker seine linke. Ludwig brauchte einen solchen Mann nicht nur zu seinem Schutze, sondern auch für die Ausführung kleiner privater Befehle, für einen heimlichen Dolchstoß, der einem Herrn vom Hofe oder dem Agenten eines „befreundeten“ Fürsten auf nächtlichem Wege versetzt werden sollte, oder für ein sicheres Geschoß, das irgend einen Lästigen aus unbekanntem Hinterhalt erreichte. Tristan war sehr zuverlässig, um so mehr als er seinen Beruf als „Liebhaber“ ausübte, und Ludwig wußte diese Kraft zu schätzen; er nannte ihn im persönlichen Umgang „Gevatter“ (compère) und hatte eine cynische, tiefinnerliche Freude am Thun und Treiben des „Wackeren“. Casimir Delavigne, der bekannte französische Dramatiker, hat in einer unheimlichen, packenden Scene eines jener grausigen Zwiegespräche vorgeführt, wie sie Ludwig mit seinem Generalprofoß wohl in verschwiegener Stunde geführt haben mag. Der König will einem abreisenden Gesandten ein Schriftstück entreißen, das ihm sonst Schaden bringen kann. Tristan bemerkt dem Herrn, daß jener ja noch in seiner Macht sei. „Nein, nein! Nichts gegen das Völkerrecht! So nicht!“ erwidert der heuchlerische Fürst, und als Tristan fragt, wie sonst das Schriststück entwendet werden solle, antwortet er leise lächelnd. „Wenn er abreist, geleite ihn ein glänzendes Gefolge!“ … Tristan begreift – das glänzende Gefolge soll der fremden Macht, die der Gesandte vertritt, beweisen, daß der König keinen Teil hat an dem Mord, der auf der Reise meuchlings erfolgen soll. „Um ihn zu ehren?“ sagt er mit schrecklichem Hohn, und der König schließt die Unterredung mit den Worten: „Du lächelst, – adieu, Gevatter, Du hast mich verstanden.“ In dieser einen, wertvollsten Szene des sonst schwachen, an allerlei politischen Anspielungen überreichen Stückes sind die beiden Männer und ihr Verhältnis schlagend gekennzeichnet.

Ludwig, der nicht wenig auf dem Gewissen hatte, wurde in eigentümlicher Weise von einer Art Vergeltung ereilt. Furchtbare Phantasiegebilde folterten sein Hirn, schreckende Visionen quälten ihn, und er, der sein ganzes Leben lang ein grausam tückischer Feind der Menschen gewesen war, begann am Ausgang seines Lebens in den Menschen furchtbare Feinde zu wittern. Er, der gegen seinen

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