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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sich rings umher im Walde zu zerstreuen hatte, um sich auf ein gegebenes Zeichen wieder zusammenzufinden, da hatte ich die beste Gelegenheit. Niemand achtete auf mich, und so ‚zerstreute‘ ich mich gleich bis hierher. Dort hat man das entschieden so bald nicht gemerkt, und als man es endlich merken mußte“ – Gabriele lächelte ein wenig – „da hat man sich ohne Zweifel allerseits gefreut.“

Der Doktor hatte sie ruhig reden lassen. Sein ganzes Wesen war in einer seltsamen Spannung. Dies war nur die Einleitung gewesen – was würde folgen?

„Was ich Ihnen sonst zu sagen habe“ – bisher hatte sie frei und fließend gesprochen, jetzt sah sie von ihrem Nachbar fort, und ihre Rede kam ins Stocken – „fällt mir schwer, schwerer, als Sie denken können. Ich – ich – muß fort aus ‚Buen Retiro‘!“

Röder sah sie erschrocken an. Oft hatte er sich’s gewünscht, sie möchte fort, weit fort sein, um nie mehr wiederzukehren, jetzt, da sie selbst die Absicht aussprach, zu gehen, dünkte es ihn eine Unmöglichkeit, daß er das zulassen könne.

„Warum denn? Und so schnell, so plötzlich? Sie sprachen immer vom Spätherbst, ich dachte, bis Mitte Oktober würden Sie –“

„Ja, es war meine Absicht, Ihre Gastfreundschaft so lange in Anspruch zu nehmen. Indessen, ich habe mich rascher erholt als ich wagen durfte, zu hoffen, ich fühle mich körperlich frisch und kräftig und dann – die Verhältnisse hier haben sich völlig geändert.“ Es fiel ihr sichtlich schwer, weiterzusprechen, aber er kam ihr mit keinem Wort zu Hilfe. Ihr unvermuteter Entschluß hatte ihn ganz außer Fassung gebracht.

„Sie haben das Haus voll ungebetener Gäste,“ fuhr Gabriele endlich leise fort, „und, wie ich sie alle kenne und beurteile, denkt keiner von ihnen daran, diese Thatsache als peinlich zu empfinden und ihr bald ein Ende zu machen. Ich möchte Sie bitten, dies nicht zu hart zu beurteilen. Ich sagte es Ihnen schon, ehe die ersten Gäste ankamen, es seien lebenslustige Leute, die jeden Genuß und jede Freude dankbar hinnehmen und sich über das Woher und Wie weiter keine Skrupel machen. Sie sind, wenigstens einige von ihnen, selbst gutherzig und geben gern und sorglos, solange sie etwas haben – eben deshalb nehmen sie auch, was andere ihnen bieten, mit einer Unbefangenheit, die vielleicht einen härteren Namen verdient.“

„Ich gebe ihr diesen härteren Namen nicht,“ fiel der Doktor nachdrücklich ein. „Glauben Sie es mir, ich habe das leichtlebige und im ganzen harmlose Völkchen immer richtig beurteilt. Sie sind eine Art gemütlicher Sozialisten und sehen in jedem gut sanierten Mitmenschen einen Bruder, der die Pflicht hat, seine minder günstig gestellten Geschwister mit seinem Eigentum zu unterstützen und zu erfreuen. So haben sie denn auch mich und meine Villa aufgefaßt, und ich sträube mich nicht weiter gegen diese Rolle, denn wenn ich auch nicht reich bin, so habe ich doch genug, um einmal den Sommer über mein Haus voller Gäste zu sehen!“

„Es sind aber solche, die Sie sich nie und nimmer aus freiem Antrieb eingeladen hätten!“

„Das will ich nicht bestreiten. Indessen – geschah nicht Ihnen ein Gefallen?“

Die junge Frau zögerte, zu antworten. Offenbar kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich.

„Sie wissen wohl nicht,“ begann sie zuletzt, und die Farbe ging und kam auf ihrem Gesicht, „daß sie alle zum Theater gehören?“

Er sah sie halb belustigt, halb gerührt von der Seite an. „Also das weiß ich nicht! Armes Kind, dies Geständnis scheint Ihnen ganz besonders schwer geworden zu sein, Sie haben es vielleicht von Tag zu Tag aufgeschoben, weil es Sie so viel Ueberwindung kostete! Ist es wirklich so?“ Gabriele nickte lebhaft.

„Nun, die Qual hätten Sie sich sparen können! Halten Sie mich wirklich für einen so schlechten Menschenkenner, für jemand, an dem all seine jahrelangen Reisen mit ihren vielfach wechselnden Eindrücken und Erfahrungen nutzlos vorübergegangen sind? Wenn dies der Grund war, weshalb Ihnen meine Gastfreundschaft für diese lustige Gesellschaft peinlich war, dann können sie alle ruhig noch einige Wochen hier bleiben und vollends Sie selbst dürfen sobald an keine Abreise denken. Weiß ich doch, daß Sie diesen Leuten so unerreichbar hoch und fern gegenüberstehen, daß es eine Beleidigung für Sie wäre, auch nur einen Vergleich zwischen Ihnen und jenen ziehen zu wollen! Um Gotteswillen, Gabriele, was ist Ihnen?“

Sie hatte bei seinen letzten Worten plötzlich ihr Gesicht mit einer leidenschaftlichen Gebärde in die flachen Hände gedrückt und begann jetzt fassungslos zu schluchzen.

Röder war in grenzenloser Bestürzung. Sein Gemüt war weich, und er gehörte zu den Männern, denen es geradezu eine Pein ist, eine Frau weinen zu sehen – und nun gar diese Frau, die er liebte!

Er neigte sein Haupt über ihr tief gesenktes Köpfchen und begann, ihr Trost zuzusprechen, wie man es einem Kinde thut. Er wußte gar nicht, was er ihr gethan, was sie in seinen Worten so schmerzlich getroffen haben konnte. Mit seiner tiefen klangreichen Stimme, in die sich ein einschmeichelnd warmer Herzenston schlich, bat er sie, sich zu beruhigen, ihm zuliebe, nicht mehr zu weinen – er könne das nicht sehen, und dazu versuchte er, sanft ihre Hände wegzuziehen, aber das war vergebens. Er fühlte nur ein paar heiße Thränen auf seine Hand herabtropfen.

Um die beiden war es rasch finsterer geworden, in dieser grünen Dämmerung ohnehin nicht zu verwundern. Als Gabriele endlich, endlich die Hände herabsinken ließ, konnte Röder selbst in dieser Nähe die Züge ihres Gesichtes und dessen Ausdruck nicht mehr deutlich unterscheiden.

Sie atmete ein paarmal hoch auf, um ihrer Stimme einige Festigkeit zu geben, und sagte dann mit einem raschen Entschluß: „Sie thun mir zu viel Ehre an, wenn Sie mich hoch über jene stellen, die die geduldeten Gäste Ihres Hauses sind – auch ich war beim Theater und werde dahin zurückkehren!“ Sie hatte das beinahe hart gesprochen, als wünschte sie sich mit einem gewissen Trotz gegen einen Widerspruch von seiner Seite zu wappnen.

Der aber erfolgte nicht. Sie fühlte nur ihre kalte zitternde Hand, die willenlos in ihrem Schoß lag, von einer festen und kräftigen erfaßt und festgehalten und hörte seine Stimme dazu sagen. „Und wenn dem wirklich so ist, glauben Sie, ich nehme mein Wort darum zurück?“

Sie blieb eine Weile stumm, dann, ehe er es zu hindern vermochte, hatte sie sich blitzschnell niedergebeugt und mit ihren heißen Lippen die feste kräftige Hand berührt, die noch auf der ihrigen ruhte.

„Gabriele!“ Ungestüm wallte es in ihm auf, aber gleich darauf durchzuckte ihn der Gedanke. „Sie ist ein Kind gegen dich und empfindet wie ein Kind dem väterlichen Beschützer gegenüber!“

Er seufzte leise. „Sie kennen mich doch noch wenig,“ begann er zögernd.

„Besser, viel besser, als Sie glauben! Ich weiß, daß Sie wenig Vorurteile haben, daß Sie gerecht und edel denken. Aber ich weiß es durch meine Mutter und auch durch Sie selbst, daß Sie eine persönliche Abneigung haben gegen alles, was irgendwie mit dem Theater in Zusammenhang steht. Haben Sie es mir nicht selbst gesagt: der Gedanke, ein weibliches Wesen, das Ihnen nahesteht, auf der Bühne zu wissen, sei Ihnen traurig und widerstreite Ihrem Gefühl? Und weil ich das aus Ihrem eigenen Munde gehört hatte, darum schwieg ich bis heute, denn von Ihnen gerade so verurteilt zu werden, das thut mir mehr weh, als ich es Ihnen mit Worten sagen kann.“

„Verurteilen? Gabriele, ich bitte Sie! Nie hätte ich das gethan – Sie sollten mir Vertrauen schenken –“

„Das will ich, eben darum bin ich hier! Ich möchte Ihnen erzählen von meinem früheren Leben –“

Er hörte ihr rasches erregtes Atmen, und wieder stieg es heiß in ihm auf. Jetzt Vergangenheit und Beruf und alles vergessen, alles außer dem Glück seines Herzens, sich das erobern und es festhalten mit starker Hand und der ganzen Welt Trotz bieten, frei und stolz!

Es war gut, daß Gabriele nicht gleich sprach, ihm war das Blut so stürmisch zum Herzen gedrungen, er hätte jetzt nichts von dem, was sie ihm erzählte, zu fassen vermocht. Als sie endlich begann, war er imstande zu hören, er rückte aber von ihr fort, so weit die kleine Bank es gestattete, und preßte die flachen Hände fest ineinander.

„Von meinem Vater sprach ich Ihnen schon und wie zärtlich er mich liebte. Aber mehr noch, er war auch unsäglich stolz auf mich,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_102.jpg&oldid=- (Version vom 5.4.2021)