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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


sogar, die paar Flaschen Champagner, die bisher im Keller gelegen hatten, heraufzubringen. Dafür erntete er nun stürmischen Beifall, das Wortspiel: „Röder, Röderer“ – wurde angesichts des Sekts, der die letztere Marke trug, mit besonderer Betonung zum besten gegeben, die Pfropfen flogen hoch gegen die Decke, die Damen schrieen auf, der perlende Schaum floß in die Gläser.

Trinkspruch folgte auf Trinkspruch, der Sekt that seine Schuldigkeit. Einmal sah Röder, wie Alfred Konsky, der wie immer Gabrielens Tischnachbar war und dem Wein lebhaft zugesprochen hatte, die Hand der jungen Frau, die neben ihm auf dem Tischtuch lag, ergriff, mit zärtlichem Druck festhielt und ihr mit ganz eigenem Ausdruck ein paar Worte zuflüsterte. Sie antwortete mit keiner Silbe, nur ihre großen blaugrauen Augen musterten ihn unter den breiten Lidern hervor mit einem so erstaunt messenden Blick und ihre Hand machte sich so rasch von der seinigen los, daß der unternehmende Herr sich ärgerlich auf die Lippe biß. Wie sie eigenartig und reizend war! Wie fein sich ihr Köpfchen mit dem lichtbraunen seidenen Haar auf dem schlanken Halse erhob und wie gut ihr das halb zerstreute Lächeln stand, das dann und wann um den lieblichen Mund schwebte! Sie war oft in Gedanken verloren, sie war es auch heute. Was hätte Cornelius drum gegeben, wenn er hätte wissen können, mit wem diese Gedanken sich beschäftigten! Konnte es immer und immer nur die Vergangenheit sein, die mit ihren Erinnerungen dies zarte Antlitz so reizvoll belebte, es gewissermaßen von innen heraus durchleuchtet erscheinen ließ? Nein und tausendmal nein! Diese mädchenhafte Jugend gehörte der Zukunft! Und sobald Cornelius Röder das dachte, zuckte es heiß auf in seinem Herzen und dann kam die Gewißheit, die unfehlbare Gewißheit: nicht für Dich! Niemals für Dich! –

Die Kindertrompete gab das Zeichen zum Aufbruch. Heiß und gerötet vom Wein, mit flackernden Augen und lachenden Lippen erhob sich alles von der Tafel. Der Hausherr bekam scherzhafte Verhaltungsmaßregeln, hübsch artig zu sein, das Haus gut zu hüten, keine Thorheiten zu begehen. Er ging mit Humor auf alles ein, er freute sich zu sehr auf das Alleinsein. Ein allgemeiner Wirrwar, ein Hin und Her von Fragen und Antworten – 0

„Aber Gabriele! Noch ohne Hut und Schirm! Und wir andern sind alle schon fertig! Wir werden zu spät kommen!“

Die schöne Miranda war sehr ungeduldig, sie brannte darauf, zu der Zusammenkunft aufzubrechen: sie hatte sich in Alfred Konskys Arm eingehängt, ihre Augen leuchteten wie zwei Brandraketen, ihr Fuß klopfte ungeduldig auf den Boden.

Gabriele war im Begriff, zu sagen: „Wie wär’s, wenn Ihr mich auch zu Hause ließet?“ Sie wußte, es würde sie heute niemand vermissen, und sie wäre tausendmal lieber hier geblieben, aber sie dachte an ihn, der heute aus seiner langentbehrten Einsamkeit ein Fest machen wollte, und mit einem Seufzer sagte sie sich, daß sie ihm auch nicht mehr sein konnte als die andern, und so schwieg sie und wandte sich, um Hut und Schirm zu holen.

Ein letztes Durcheinander von bunten Kleidern, geschwenkten Hüten, wehenden Tüchern, ein Händeschütteln, das dem zurückbleibenden Hausherrn die Rechte beinahe aus dem Gelenk riß, langsames Verhallen der Stimmen, Auftauchen heller Pünktchen da und dort, endlich alles still – still! Nur aus dem Hause ein gedämpftes Klirren von Tellern und Gläsern: Mamsellchen deckte mit Ewerts Hilfe den Tisch im Speisezimmer ab.

Cornelius atmete tief auf und wandte sich zurück, um einen Blick auf seine Villa zu werfen. „Buen Retiro!“ Ja, das war sie ihm gewesen – gewesen! Würde sie ihm wieder dasselbe werden wie damals, als er hier einzog, wenn all’ die Fremden, all’ die gleichgültigen Menschen sie verlassen haben würden – und Gabriele mit ihnen?? – Es war ihm plötzlich, als sei diese Villa, die er fast wie einen lebenden Freund geliebt, doch nichts weiter denn ein toter Besitz, für Geld zu nehmen und hinzugeben wie tausend andere Dinge. Aber er war doch so glücklich hier! Wirklich? Konnte das „Glück“ genannt werden, dies Gefühl der Ruhe, des Geborgenseins, das Bewußtsein, nichts weiter von der Welt zu wollen, als daß sie ihn in Frieden ließ? Glück! Glück mußte es sein, den Arm um die mädchenhafte Gestalt im weißen Kleide legen zu können, das zierliche Köpfchen mit dem hellbraunen Haar an seiner Brust ruhen zu fühlen, die schmale Hand in der seinen – und dazu sprechen zu können: Du bleibst mein! – Das, ja, das wäre eine „gute Zuflucht“ vor der Welt, das wäre ein glückliches Heim!

Er umging langsam im Bogen die Villa, ohne der glühenden Sonne zu achten, die auf seinen Scheitel herabbrannte, und schritt dem Walde zu. Wieder stieg die erste schöne Zeit vor ihm auf, da er Gabriele für sich allein gehabt hatte, und jener Gewittertag und der Abend, da er sie zum erstenmal singen gehört! Was wollte er denn? Gabrielens Wunsch war erfüllt, sie hatte sich gestärkt und gekräftigt hier – er und seine Villa, sie hatten beide ihre Schuldigkeit gethan!

Gabriele und das Theater. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, er kam ihm immer wieder. Er hatte ja gewiß kein Vorurteil gegen die Bühne und wahrhaftig, es gab Schauspieler und Schauspielerinnen genug, welche das alte bürgerliche Vorurteil gegen den Stand in glänzender Weise widerlegten. Aber Gabriele, wie er sie kannte, schien ihm so ungeeignet wie nur möglich, gerade diesen Beruf auszufüllen. Wenn sie aber mit ihm nicht darüber sprach, ihn ihres Vertrauens nicht für wert hielt, seinen Rat über die Gestaltung ihrer Zukunft nicht begehrte … er konnte sich nicht gewaltsam in ihr Vertrauen drängen!

Im Walde hatte die Hitze des Tages sich so gesammelt, daß es dem einsamen Wanderer vor den Augen zu flimmern begann. Erst in der Nähe des Baches wehte es etwas erfrischender. Röder ließ sich dort auf einen großen moosüberzogenen Stein nieder und sann lange nach. Er mußte an jenen Frühlingsabend denken, als er den Brief an seinen Freund Herzog geschrieben hatte und dann den Wald durchstreifte, so in sich gefestigt, so eins mit sich.

„Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt!“

So hatte es damals in ihm geklungen, und er hatte gemeint, daß kaum eine einzelne müde Welle aus dem Ocean des Lebens an sein weltentrücktes Ufer plätschern würde! Jetzt, wenige Monate später – wie viel krause rauschende Wogen hatten sein stilles Heim, sein resigniertes Herz umbrandet! Der Lenz war dahin, der Sommer ging, der Herbst kam – der Herbst! Er senkte sein Haupt und ging nach der Villa zurück.

Als er durch den Garten kam, war die Sonne fast schon hinunter. Durch das Blättergewirr stahlen sich ein paar schwache goldige Reflexe, wie müde Augen, die einen Scheidegruß sagen. Ein einförmig flötendes Vögelchen schickte einem Genossen sein Abendlied zu. Schmachtend nach einem Tröpflein Abendtau, öffneten die Blumen ihre Kelche.

Es gab ein schwermütiges verstecktes Plätzchen im Garten von „Buen Retiro“, eine plumpe kleine Bank ohne Lehne unter einer riesigen Traueresche, die auf einer leichten Bodenerhöhung stand. Viel Aussicht gab es von da nicht zu bewundern, die Bäume und Gebüsche traten ziemlich dicht zusammen, und Blumen wuchsen dort gar nicht. Der Platz war aber auch in der heißesten Sonnenglut schattig, überdies so abseits gelegen, daß er nicht leicht zu finden war. Daher hatte Gabriele ihn zu ihrem Lieblingsaufenthalt erkoren, und Röder, der das wußte, hatte zuweilen im stillen sein Vergnügen daran gehabt, wenn die andern die junge Frau suchten, sie laut beim Namen riefen und Mutmaßungen anstellten, wo sie geblieben sein könne. Wenn sie dann nach langer Zeit zum Vorschein kam und auf alle Fragen und Ausrufe, wo sie gewesen sei, ruhig erwiderte „Im Garten!“, dann trafen ihre Augen und die des Hausherrn in lächelndem Einverständnis zusammen, und er hütete sich wohl, ihr kleines Geheimnis zu verraten.

Hierher lenkte Cornelius Röder seine Schritte an diesem schwülen Augustabend. Konnte er doch sicher sein, heute niemand dort anzutreffen. Wie er aber vom geraden Gartenweg ablenkte und rechts einbog, schimmerte es hell am Fuße der Traueresche, ein weißes Frauenkleid – und ohne noch die Gestalt und das Gesicht zu erkennen, wußte der Herankommende augenblicklich, wen er vor sich habe. Unwillkürlich machte er eine Bewegung, wieder umzukehren, aber die junge Frau hatte ihn gesehen und blickte ihn an, als habe sie schon lange auf sein Erscheinen gewartet. Es blieb ihm nichts andres übrig, als näher zu kommen.

„Sie sind zurückgekehrt? Sie sind nicht bei der Gesellschaft?“

Das waren zwei wenig geistreiche und vollkommen überflüssige Fragen, denn er sah ja, was er fragte, aber Cornelius hatte bei Gabrielens unerwartetem Anblick einen heftigen Schreck empfunden, das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf … er wußte nicht, was er sprach.

Auch sie war nicht so ruhig und sicher wie sonst.

„Ja – ich – ich kam zurück, weil – haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?“ Sie rückte seitwärts; er antwortete mit einer stummen Verneigung und nahm neben ihr Platz.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_088.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)