Seite:Die Gartenlaube (1895) 056.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Doktor näher. Und jetzt stand er dicht unter den Fenstern, hob sich ein wenig auf den Fußspitzen empor und sah und hörte. Gabriele saß vor dem geöffneten Flügel und begann leise ein Vorspiel. Der Lauscher konnte sie im Profil sehen, das feine Gesichtchen war ernst und gedankenvoll, die dunkeln Brauen ein wenig zusammengezogen. Die Art, wie sie die Hände leicht und sicher über die Tasten gleiten ließ, verriet die fertige Pianistin. Jetzt hob sich eine leidenschaftlich traurige Melodie hervor und dann begann sie zu singen.

In weichen vollen Alttönen, die eine innerliche Fülle der Empfindung verrieten, schwebte es herab durch das halboffene, Fenster zu dem atemlosen Zuhörer – es war eine Ballade, die Gabriele sang, der „König von Thule“.

Die Melodie war dem Lauschenden fremd, aber das that ihm, nichts, sie wußte so ergreifend zu erzählen, trotzdem oder vielleicht weil sie so einfach war. Und die Stimme, die Stimme! Sie durchschauerte ihn, sie traf ihn bis ins innerste Herz. Er hob den Blick zu den Sternen empor und fühlte die lauen Lüfte der Sommernacht um seine Stirn wehen, ein lieblicher Rosenduft umschmeichelte ihn …. den liebte Gabriele auch, den hatte ihr Haar damals gehabt, als das Gewitter losbrach und er sie in seinen Armen hielt.

„Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut –“

sang die Stimme. Welch ein Wort das war: letzte Lebensglut! Wohl mußte es schön sein, die noch einmal vor dem Tode zu trinken! Und er, der hier stand, der entsagende Mann, der mit dem Leben abgeschlossen zu haben meinte und sich auf eine weltfremde Insel gerettet hatte, er fühlte es jetzt, wie die „Lebensglut“ in ihm emporloderte, heiß, unbezwinglich, und mit einem heftigen Schreck über sich selbst wandte er sich ab und trat vom Fenster zurück.

Er hatte eine schlaflose Nacht danach, aber in diesen Stunden hatte er Zeit gefunden, seine Entschlüsse zu fassen. Fort konnte er nicht, dann wäre auch Gabriele nicht länger in der Villa geblieben. Und sie fortschicken – unter welchem Vorwande konnte er das thun? Das Stillleben und die Luft von Buen Retiro thaten ihr offenbar gut, sie war sichtlich rosig und blühend geworden in der letzten Zeit. Um alles in der Welt durfte sie nicht ahnen, wie es um ihn stand. Gleich den meisten Männern reiferen Alters fürchtete auch Cornelius Röder nichts so sehr als den Gedanken, sich lächerlich zu machen – vieles andere ertrug er lieber als gerade das. Und wenn er, der sich bisher so gut als den väterlichen Freund aufgespielt hatte, der Gabrielens Vater sein konnte, jetzt plötzlich Miene machte, ihr zu huldigen, ihr seine Ritterdienste zu widmen, dann war er sicherlich dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen! Also galt es, dem Zusammensein mit der jungen Frau möglichst auszuweichen, oder, falls dies nicht thunlich war, dies Zusammensein nach Kräften abzukürzen. Das würde schon zu machen sein. Unter dem Vorwand vermehrter Arbeit konnte er die Mahlzeiten, die sich seit einigen Tagen zuweilen in die Länge gezogen hatten, beschleunigen und jedem intimeren Gespräch dadurch, daß er sich sofort auf sein Studierzimmer zurückzog, ein Ende machen. Im Garten kannte er Gabrielens Lieblingsplätze genau und konnte es vermeiden, sie dort zu treffen. Auch würde er des öfteren nach der Stadt gehen. Zwar war ihm der verflossene Tag endlos lang und ziemlich öde erschienen, aber das half nun alles nichts, er mußte trachten, sich selbst zu entfliehen, und dazu durfte kein Mittel unbenutzt bleiben.

Wäre er streng mit sich selbst ins Gericht gegangen, er hätte sich’s gestehen müssen, daß es schon seit jenem Gewitterabend um sein inneres Gleichgewicht geschehen war, allein er scheute sich, die Sonde in die frische Wunde zu stecken, um zu untersuchen, wo sie begann und wie tief sie ging. Es war schlimm genug, daß überhaupt eine Wunde da war! Er hatte sie entdeckt, da er den leidenschaftlichen Ton dieser dunklen Stimme vernommen hatte, und er wünschte von ganzer Seele, er hätte Gabriele Hartmann nie singen gehört.

Am andern Tage that er sehr geschäftig mit seinen Arbeiten, obgleich er nur ein paar Seiten Manuskript zustande brachte, die er beim späteren Ueberlesen erbarmungslos wieder durchstrich, da sie ihm durchaus ungenügend erschienen.

Ihm war unruhig und seltsam erwartungsvoll zu Sinn; es litt ihn nicht bei seinen Büchern, es litt ihn überhaupt nicht im Hause. Trotzdem es ein sehr warmer Tag war, machte er schon vor Tisch einen weiten Spaziergang und kam so erhitzt und erschöpft heim, daß er sich bei seinem Gast entschuldigen ließ: er müsse sich völlig umkleiden und bitte Frau Hartmann, allein zu speisen.

Was Mamsellchen ihm in seinem Studierzimmer auftrug, genoß er nur zum Teil, „ohne Sinn und Verstand“, wie sie im stillen sagte, dann warf er sich auf sein Sofa und sank in einen bleiernen Schlaf, aus dem er erst in später Nachmittagsstunde erwachte.

Er konnte sich nicht überwinden, Gabriele aufzusuchen, sondern schlich heimlich, ohne Kaffee oder sonstige Erfrischung, durch die Hinterpforte seines Gartens und wanderte ziellos durch den Wald, um erst kurz vor Sonnenuntergang heimzukehren. An der letzten Biegung des Weges blieb er überrascht stehen: eine schlanke weibliche Gestalt lehnte gegen einen der Ahornstämme – Gabriele, die offenbar auf ihn gewartet hatte.

Wenn ihm bei ihrem unerwarteten Anblick das Blut ungestüm aufwallte und er bestrebt war, ihr diese seine Erregung zu verbergen, so konnte es ihm doch nicht entgehen, daß auch sie befangen war, offenbar noch befangener als er.

Sie tauschten einen höflichen Gruß miteinander, und dann standen sie Auge in Auge, stumm, keiner fand ein harmloses Wort.

„Ich habe Sie hier erwartet,“ begann endlich die junge Frau, „ja, ich erwartete Sie hier – um – um – ich wollte Ihnen etwas sagen, das –“

Ihre hilflose Verlegenheit rührte ihn und nahm ihm die eigene Unsicherheit.

„Nun, was ist’s denn damit, Frau Gabriele? Sie sind ja ganz aufgeregt, das darf ich nicht dulden! Sie wissen, ‚keine Erregung!‘ hat Ihr Arzt gesagt. Was wollen Sie mir mitteilen? Ist’s etwas so Peinliches?“

„Peinlich, ja, das ist das Wort dafür!“ fiel sie ihm hastig in die Rede. „Es fällt mir schwer, Ihre Güte, die Sie mir bisher erwiesen haben –“

„Aber ich bitte Sie um alles, worin besteht denn diese meine sogenannte Güte? Ich habe ein Landhaus und Sie machen mir die Freude, mit darin zu wohnen, das ist alles! Sie, meiner lieben Margot Tochter! Sie könnten ganz andere Dinge von mir verlangen, und ich würde sie thun!“

„Gewiß würden Sie das, ich weiß! Und doch – dies – dies –“

„Sie müssen wenig Vertrauen in meine gerühmte Güte setzen, wenn Ihnen ein offenes Wort so schwer fällt!“

„Gut also, ich will offen sein.“ Sie warf ein wenig den Kopf zurück und faßte sichtlich einen tapfern Entschluß. „Ich habe Ihnen bis jetzt noch nichts Näheres über meine Vergangenheit erzählt, ich hatte meine Gründe dafür, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie nicht fragten. Daß ich zuletzt in Bremen war, wissen Sie. Ich fand dort einige Bekannte wieder, die mir bereits in Brüssel nähergetreten waren – das heißt, für dies Nähertreten waren mehr äußerliche Gründe maßgebend. Sie sind gut gegen mich gewesen und ich bin ihnen Dank schuldig. Während der langen Krankheit meines Mannes und nach seinem Tode haben sie sich meiner angenommen, ich darf ihnen das nicht vergessen. Auch für die Zukunft kann ich ihren Rat, ihre Hilfe kaum entbehren, ich sage Ihnen wohl später, warum! Und eben diese Bekannten – es ist ein Ehepaar und dann der Bruder der Frau –“

Sie war mit dem Atem zu Ende, so rasch hatte sie gesprochen, das liebliche Gesicht war über und über rosenrot. Röder stand da und sah sie selbstvergessen an – „trank letzte Lebensglut“ klang es in ihm.

„Was werden Sie nur von ihnen denken, wie sie beurteilen? Mein Arzt in Bremen, der meine Adresse wußte, dem ich von Ihnen erzählte, hat sie hierhergewiesen, und nun, da sie augenblicklich alle drei ohne Beschäftigung sind – und ihre Lebensauffassung ist so – so frei, so ohne Bedenken und viele Formen – da sind sie plötzlich heute unerwartet gekommen, mich zu besuchen. Sie fuhren vor etwa zwei Stunden hier vor, sind ganz entzückt, mich wiederzusehen, schwärmen von dem ‚Idyll‘, in dem ich hier lebe – und ich fürchte – ich glaube –“

„Aber das trifft sich ja prächtig!“ unterbrach er sie lebhaft.

„Ich hab’ es schon lange Ihrethalben gewünscht, ‚Buen Retiro‘ möchte mehr Gäste haben, damit Sie etwas mehr Zerstreuung fänden, jetzt, da Sie kräftiger und frischer sind! Raum haben wir in Hülle und Fülle, die Zimmer sind, dank dem mitgebrachten Ueberfluß von meinem väterlichen Gut, aufs beste ausgestattet, und Mamsellchen klagt täglich, sie führe ein zu bequemes Dasein und es fehle ihr an Beschäftigung. Ich bin glücklich, geradezu glücklich, Ihnen endlich einen kleinen Gefallen erweisen zu können,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_056.jpg&oldid=- (Version vom 5.4.2021)