Seite:Die Gartenlaube (1895) 051.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


alten Hausfreund sagen: „Sie hat etwas, das sie quält und ihr keine Ruhe läßt.“ All diese Dinge schienen wie Glieder einer Kette ineinander zu passen; Gedanken und Vorstellungen, an die er bisher nie gedacht, rasten durch sein Hirn, er durchlebte gleichsam binnen einer Minute all die letzten Wochen, fand seine Fragen beantwortet, seine Zweifel begründet; wie ein Meer war’s, ein wildes trostloses, darin er unterging – und dann plötzlich schlug wie aus weiter weiter Ferne Franziskas Stimme an sein Ohr: „Ist dies das rechte Fläschchen, Ernst?“

Er riß die Augen auf und nickte. Noch lebte er und war bei Besinnung, noch war Franziska bei ihm; aber wenn sie ging, wenn sie vielleicht nimmer wiederkehrte – wenigstens so nicht wiederkehrte, wie sie gegangen, wäre es dann nicht besser – wenn …?

Ernst Wodrich hob die blasse, mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und rang wie ein Ertrinkender, den die gurgelnden Wasser hinabreißen wollen; wie ein Verzweifelter rang er aus all diesen irren entsetzlichen Wahnvorstellungen heraus um eine Sekunde völliger Klarheit – eine Sekunde, die über sein Leben und das ihre entscheiden sollte. –

„Wieviel Tropfen, Ernst?“

Ernst sah sie an, klar, durchdringend.

„Fünfzig Tropfen,“ sagte er todesruhig.

Die Frau schüttelte zweifelnd den Kopf; sie hob den Papierstreifen am Halse der Flasche, 20–30 Tropfen hatte daraufgestanden, aber die Zahl am Ende des Streifens war durch ein Versehen abgerissen, die Dreißig war so geschrieben, daß man sie leicht für eine Fünfzig halten konnte. –

Fünfzig Tropfen!

Mit all ihrem Sinnen und Denken schon bei der furchtbaren Stunde, die ihr bevorstand, zählte Franziska mechanisch die Tropfen ab, dreißig, vierzig, fünfzig – und Ernst sah zu und zählte mit – und ihm war, als flösse sein Leben so, Tropfen um Tropfen, hinab in die Ewigkeit. –

In diesem Augenblick trat das Stubenmädchen herein und brachte das Frühstück für den Herrn; sie blieb ruhig abwartend stehen und sah zu, wie Franziska die Tropfen eingoß, sie sah, wie die Hand der Frau zitterte und ein paar der glasklaren Tropfen über den Rand des Löffels liefen.

Es war geschehen.

Ernst schluckte die bitteren Tropfen hinunter, seine Augen ruhten immer noch mit demselben klaren, fast unirdischen Blick auf dem bleichen unruhigen Gesicht der Frau. Aber sie schlug die schönen kummervollen Augen nicht auf – sie gab ihm auf sein Geheiß etwas Wein zu trinken, dann legte er sich zurück und sagte aufatmend: „Ich danke Dir, Franziska. So – das wird gut thun.“

„Und das Frühstück, Herr Regierungsrat,“ mahnte Lisbeth, schüchtern herantretend.

Er wehrte mit der Hand ab. „Jetzt nicht!“

Lisbeth warf einen scheuen Blick auf den Herrn, auf die Frau. Wie sonderbar die beiden waren, so ernst, so schweigsam – gerade als wenn sie ’was miteinander gehabt hätten, mußte sie denken. „Franziska“ hatte der Herr zur Frau gesagt – so hatte er sie noch nie genannt. Kurios! Das mußte sie Rieke erzählen, sobald die nur vom Markt zurückkäme.

So ging sie mit ihrem Frühstücksgerät wieder hinaus in die Küche.

Es schlug dreiviertel Zehn. Franziska brannte der Boden unter den Füßen, sie mußte fort. Die dumpfe Herzensangst der letzten Tage war zum Riesen herangewachsen, der das junge Weib mit eiserner Faust unter seinen Bann zwang, daß sie fast willenlos diesem unerbittlichen Zwange folgen mußte.

Sie stand zu Füßen von Ernsts Bett – ihr Herz klopfte in starken Schlägen, daß sie es nicht bloß fühlte, sondern hörte, deutlich hörte; sie hielt die kalten zitternden Finger fest ineinandergeschlungen, wollte sprechen, aber ihre Zunge versagte den Dienst. Endlich brachte sie mühsam, mit heiserer Stimme die Worte hervor: „Wünschest Du noch etwas, Ernst?“

Er hatte still, wie ein Todmüder, dagelegen, jetzt schlug er die Augen auf und sah sie an mit einem Blick, der ihr – hätte sie ihn gesehen – das Herz zerrissen hätte – und sagte langsam: „Nein, ich danke. Geh' in Frieden, Franziska!“

Sie wankte. Es war, als müsse sie vor dem Bett in die Knie sinken, als müsse sie ihr Haupt an Ernsts Brust legen und ihm alles bekennen – alles, was wie eine schier unerträgliche Last auf ihrer Seele lag, was sich wie eine Mauer, höher und höher anwachsend, zwischen ihr und ihrem Gatten aufbaute; aber mit einem letzten heldenhaften Aufraffen ihrer physischen und geistigen Kräfte drängte sie dies stürmische Begehren zurück. Sie griff nicht einmal nach seiner Hand, die reglos auf der Decke lag, sie wagte keinen Blick auf sein Angesicht; hätte sie ihn nur berührt, hätte sie ihn nur angesehen – noch in dieser letzten Minute wäre sie sich selber untreu geworden, und alles – das ganze ungeheure Opfer, das sie sich auferlegt, wäre vergebens gewesen!

Diese letzte Minute am Krankenbett ihres Gatten ward für sie zur Ewigkeit, in der ihre junge Seele ein Martyrium sondergleichen durchlitt.

Ohne ein Wort, ohne einen Blick schritt sie hinaus wie ein Held. – –

Franziska war fort. Mit hastigen Worten hatte sie dem verdutzten Hausmädchen eingeschärft, für den Herrn zu sorgen, hatte sich eine Droschke holen lassen und war fortgefahren. Immer unter demselben Druck jener dumpfen fürchterlichen Angst, die sich fast betäubend auf Herz und Hirn legt, wie bei einem Verbrecher, der sich zum letzten Gange anschickt. –

Kaum war die Droschke davon, als Doktor Böhmer auf einem offenen Gutswagen, der ihn aufs Land hinaus holte, vorüberfuhr. Er sah das ihm wohlbekannte Mädchen von Wodrichs noch unter der Hausthür stehen und sich rechts und links mit einem so sonderbaren Gesichtsausdruck umschauen, daß es ihm sofort auffiel. Der Kutscher mußte halten, und Doktor Böhmer rief das Mädchen an. „Was ist denn bei Ihnen los?“ fragte er barsch. „Was haben Sie hier zu gucken?“

„Ach, Herr Doktor,“ stotterte Lisbeth ungeschickt, „ich weiß nicht, bei uns ist heut’ alles so sonderbar. Die gnädige Frau ist fort, und der Herr …“

„Was ist mit dem Herrn?“

„Je, ich weiß nicht. Er wollte kein Frühstück und er sieht so schlecht aus …“

„Verrücktes Gewäsch!“ brummte der Doktor, sprang indes nichtsdestoweniger vom Wagen, bedeutete den Kutscher, ein paar Minuten zu warten, und ging mit dem Mädchen ins Haus. In diesem Augenblick kam Rieke mit ihrem schwerbeladenen Korbe vom Markte zurück. „Zum Kuckuck, müssen Sie auch gerade jetzt ausrennen und können nicht aufpassen!“ fuhr der alte Herr die Ahnungslose an. „Nun haben wir die Bescherung! Die Frau ist ausgegangen – mit solch einem Brüllhusten, bei dem schönsten Ostwind, den man sich denken kann …“ er konnte nicht weiter, pustend, atemlos blieb er auf dem Treppenabsatz stehen.

„Ausgefahren,“ verbesserte das junge Hausmädchen, das sich jetzt schon vor Riekes heiligem Donnerwetter fürchtete.

„Ganz egal – Ihr hättet sie nicht weglassen sollen,“ knurrte der Doktor. Sie standen vor der Flurthür, Rieke schloß auf; sie war noch immer sprachlos, was ihr selten genug passierte, stellte ihren Korb ohne weiteres in den Flur ab und ging hinter dem Doktor her ins Schlafzimmer.

Der Kranke lag wie schlafend, sein Gesicht war sehr blaß mit tiefen bläulichen Schatten. Doktor Böhmer griff nach dem Puls. „Nicht möglich!“ murmelte er, legte die Hand auf das Herz und beugte sich dann, wie in plötzlicher Ahnung, zu den Lippen des Kranken nieder. Ein schwacher Geruch von bittern Mandeln bewies ihm, daß er sich nicht geirrt. Verstört blickte er sich um, suchte mit den Augen nach dem verhängnisvollen Fläschchen – richtig, dort stand’s auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers. Eine wirre Gedankenflut schoß auf ihn ein – in der nächsten Sekunde jedoch war er wieder der Arzt, der ruhige, kühl besonnene. „Rieke, schnell starken Kaffee gekocht – die andere Dirn’ soll in die Apotheke …“ Er riß einen Zettel aus seinem Notizbuch, kritzelte ein paar Worte darauf. „Hier – aber so rasch als möglich!“

(Schluß folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_051.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)