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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Der Doktor strich ihr begütigend über die Wange. „Zieh’ doch kein so bitterböses Gesicht, als ob Du damit all’ die guten Sachen ansäuern wolltest! Wir können unsern Gast doch nicht verhungern lassen!“

„Damit hat’s gute Wege! Ist außerdem nicht mein Gast!“

„Ich bitte mir’s aber aus, Mamsellchen, daß Du sehr liebenswürdig gegen meinen Gast bist!“

„Danach wird die Dame auch viel fragen!“

„Einerlei, ich frage danach, und wenn Du es Margots Andenken nicht zuliebe thust, dann thu’ es um meinetwillen!“

Sie murmelte etwas Undeutliches vor sich hin, dann sah sie kläglich zu ihm auf. „O Gott, wird das hier jetzt ein Leben sein! Unsere schönen stillen Tage –“

„Du hast mir doch selbst immer Abwechslung gewünscht!“

„Ja, aber doch nicht so eine! In die Stadt sollte mein Doktor und sich da amüsieren und oft Besuch kriegen und sich hübsche einladen lassen, aber nicht eine Dame zu sich ins Haus nehmen!“

„Hätte ich Margots Tochter etwa abweisen sollen?“

„Na, das sag’ ich nun gerad’ auch nicht! Sie sind der Herr, und was bin ich? Eine alte einfältige Frauensperson! Was weiß und versteh’ ich denn? Gar nichts weiß und versteh’ ich!“

Mit dieser bescheidenen Selbstkritik drückte sich Mamsellchen zur Thür hinaus. –

Die festgesetzte Stunde kam heran. In ihrem letzten Briefchen hatte die junge Frau gebeten, ihr Gastfreund möge sie nicht am Bahnhof empfangen. Er hatte ihren Wunsch erfüllt und ging jetzt unruhig im Vorgarten auf und nieder. Es war acht Uhr vorbei, ein stiller milder Abend, der Himmel ganz umwölkt, die Luft sehr weich und bedrückt. Wie betäubend süß die Narzissen dufteten! Doktor Röder sah zu den geöffneten Fenstern der Zimmer empor, die seinen Gast beherbergen sollten. Wie würde es sein, wenn dort, gerade über der goldenen Inschrift, ein junges weibliches Gesicht erscheinen würde!

Wagenrasseln, Peitschenknallen, näher und näher! Ewert, der auf Wache gestanden hatte, lief herbei und postierte sich in dienstlicher Haltung neben der Gitterpforte. Nun hielt der Wagen, und eine schlanke feine Frauengestalt, in einen grauseidenen Mantel gehüllt, stieg aus. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihr Gepäck, das Ewert dem Kutscher abladen half, und kam langsam auf die offenstehende Gitterpforte zu. Während des Gehens hob sie mit einer lässigen Bewegung die Hand und nahm den kleinen Halbschleier, der ihr Stirn und Augen bedeckte, vom Gesicht. Es sah aus, als kostete sie diese kurze Bewegung Mühe.

Doktor Röder war ihr hastig entgegengeschritten, viel schneller als es sonst seine Art war. Wie er jetzt dicht vor ihr stand, streckte er ihr die Hand entgegen, sie legte ruhig die ihrige, hinein und sah aus großen blaugrauen Augen mit einem schüchtern fragenden Blick zu ihm empor. Trotzdem sie groß war, hatte die ganze Erscheinung etwas zart Mädchenhaftes, fast Kindliches; das schmale Gesichtchen erschien rührend in seiner matten Blässe, der vorwiegende Ausdruck darin war der der Müdigkeit. Müde blickten die Augen, müde war die Haltung des Kopfes und der Zug um den Mund, und so umflort klang auch die Stimme, die leise „Grüß Gott!“ sagte.

„Grüß Gott!“ hatte auch Margot immer gesagt, sie liebte diesen Gruß vor allen andern und hatte ihn Wohl darum auch ihrer Tochter vererbt. Dies war aber das Einzige, was den Doktor für jetzt an Margot erinnerte.

„Herzlich Willkommen, meine liebe – mein liebes Kind!“

Er zögerte, wollte sie auf die Stirn küssen, unterließ es dann aber. Sie hatte in dieser ersten Minute bereits eine stark hervortretende Empfindung in ihm geweckt, das Mitleid! Sie sah sehr hilfsbedürftig aus, und er nahm sich vor, ihr beizustehen, so gut er’s irgend vermochte.

„Sie haben eine lange, beschwerliche Reise gehabt,“ meinte er bedauernd.

„Ja, sehr lang und anstrengend!“ Wieder diese tiefe Müdigkeit in Ton und Blick.

Ohne ein Wort weiter zu sagen, legte er ihren Arm leicht in den seinigen und führte sie dem Hause zu. An den zurückgeschobenen Glaswänden der Veranda war ein Laubgewinde befestigt, von dem in Blumenbuchstaben das Wort „Willkommen“ herabschaukelte.

Die junge Frau sah es und lächelte ein wenig, aber auch dies Lächeln war müde, als habe sie es verlernt, sich zu freuen.

„Es wird alles wieder gut werden!“ sagte Röder tröstend mehr zu sich selbst als zu seiner Begleiterin.

Ein Seufzer hob ihre Brust, sonst erwiderte sie nichts.

Aus einer Seitenthür huschte das Mamsellchen herbei, ganz Neugier und gespannte Erwartung. Wie sie die beiden Arm in Arm vor sich stehen sah, gingen die Augenbrauen ganz, ganz hoch empor.

„Das ist meine alte Getreue, von der ich Ihnen schon schrieb,“ stellte der Hausherr vor. „Und hier, Mamsellchen, ist Frau Hartmann, unserer Margot Tochter!“

„Aber mit der hat sie keine Aehnlichkeit, auch nicht eine Spur!“ meinte Mamsellchen, indem sie die dargebotene Hand der jungen Frau flüchtig drückte und ihr dabei unverwandt und spähend in die Augen sah. „Gott, wenn ich denke, wie die Margot aussah!“

Es lag keine sehr wohlwollende Kritik für die Tochter in diesem Ausruf. Der Doktor beeilte sich, die Scene zu beenden.

„Unser Gast ist sehr müde, möchtest Du ihm nicht die Zimmer oben zeigen? Wollen Sie zu Abend bei mir speisen, Frau Gabriele, oder in Ihren Zimmern?“

„Wenn ich für heute allein sein dürfte – nur eine Tasse Thee – ich bin so übermüdet –“

„Gewiß, aber gewiß! Alles, wie Sie wünschen! Auch mit dem Frühstück des Morgens – ich stehe ziemlich früh auf, weil sich’s dann am besten arbeitet – das darf aber Sie in keiner Weise beeinflussen! Mamsellchen wird auf Ihr Klingeln erscheinen oder Ihnen Ewert schicken, und Sie bestellen dann alles, wie Sie es wollen. Ich habe nur eine Bitte an Sie: sehen Sie ‚Buen Retiro‘ als Ihre Heimat an!“

Sie blickte ihn dankbar an und bewegte die Lippen, es war aber kein Wort zu hören. Es lag wie ein Schleier über ihrem ganzen Wesen. Hinter der Gruppe erschien Ewert mit einem schmalen Koffer, den er leicht auf der Schulter trug, und einem schwarzen Täschchen in der Hand.

„Ist das Ihr ganzes Gepäck?“ fragte Mamsellchen, während ihr Doktor mißbilligend dazu den Kopf schüttelte.

„Nein,“ erwiderte die Gefragte kurz, „es wird in einiger Zeit noch etwas Nachkommen!“ Sie wandte sich zu dem Hausherrn. „Darf ich Ihnen schon jetzt Gute Nacht sagen?“

„Gute Nacht – und gute Träume! Möchten die Penaten meines Hauses Ihnen wohlgesinnt sein!“

Er sah ihr nach, wie sie langsam, langsam, von Ewert begleitet, die Treppe hinanstieg und oben in ihrem Wohnzimmer verschwand.

„Was sind das: Penaten?“ fragte Mamsellchens Stimme neben ihm.

„Schutzgeister!“

„So – hm!, Na, möchten sie ihr doch das hochmütige Wesen austreiben! Das hat die Margot nicht gehabt!“

„Wie willst Du die junge Dame nach kaum fünf Minuten beurteilen? Wie kannst Du wissen, ob sie hochmütig ist?“

„Sie sieht doch so aus, um die Augen ’rum – und spricht so wenig, als wenn jedes Wort zum wenigsten zehn Mark kostete, und dann – haben Sie denn nicht gesehen, Doktor, wie sie immer auf mich herunter sah?“

Er mußte lächeln. „Wie sollte sie es denn anfangen, zu Dir emporzusehen, wenn sie mindestens anderthalb Köpfe größer ist, als Du?“

„Na, so viel wird es auch nicht gewesen sein! Morgen werd’ ich mich mit ihr messen!“

Das klang vieldeutig, und Röder mußte von neuem lächeln.

„Du wirst sehr höflich und gut zu ihr sein, das bitt’ ich mir aus!“

„Wie’s in den Wald hineinschallt, so schallt’s auch wieder heraus!“ meinte Mamsellchen philosophisch. Wenn ich bedenk’, wie reizend die Margot immer zu mir war – bei der war’s keine Kunst, gut zu sein!“

„Die hast Du auch aufwachsen sehen, die hast Du gekannt, als sie ein ganz kleines Mädchen war, das ist doch ein großer Unterschied! Von einer jungen Dame, die Du zum erstenmal in Deinem Leben siehst, kannst Du unmöglich die gleiche Herzlichkeit verlangen.“

Diese Bemerkung schien Mamsellchen, die mit Vorliebe betonte, daß sie einen „offenen Kopf“ besitze, einzuleuchten. Sie stand ein Weilchen schweigsam da. Aber hübsch find’ ich nun diese gar nicht!“ bemerkte sie dann in sehr bestimmtem Ton.

Ihr Herr blieb still.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_026.jpg&oldid=- (Version vom 5.4.2021)