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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.

     (1. Fortsetzung.)

Als Röder sich dem Tisch näherte, auf welchen Ewert die Postsachen niedergelegt hatte, sonderte Mamsellchen gerade mit spitzem Finger ein zierliches Briefchen von elfenbeinweißem dicken Papier mit Goldrand aus den übrigen Papieren heraus und reichte es ihrem Herrn, ohne ein Wort dazu zu sprechen. Desto mehr sprachen ihre Augen.

„Was ist das?“ fragte er gleichgültig.

„Ja, was ist das?“ wiederholte sie. „Das müssen Sie doch wissen! Etwas Weibliches ist’s, soviel ist klar.“

„Wirklich?“ Er hob das Briefchen nahe zu seinen Augen empor und sah sich die zierliche Damenhandschrift genau an. „Wer kann mir denn zu schreiben haben?“

„Das müssen Sie doch wissen!“ beharrte sie. „Was geht es mich auch an – – – bloß weil Sie neulich sagten, Sie hätten keine Damenkorrespondenzen – und früher sprachen Sie doch eigentlich immer die Wahrheit!“

„Das thu’ ich eigentlich auch heute noch,“ unterbrach er sie lachend. „Und ich weiß in vollem Ernste nicht – Poststempel Bremen – bleib’ nur hier, Mamsellchen, wir wollen das Geheimnis zusammen lösen!“

„Na, es schickt sich nun zwar gar nicht“ – dabei hob sich die kleine Alte in brennender Neugier auf den Fußspitzen empor und reckte die Nase hoch, um besser zu sehen.

Röder riß den Umschlag auf; vier eng beschriebene Seiten. „Gabriele Hartmann“ – er las sich selbst kopfschüttelnd die Unterschrift vor – „kenn’ ich nicht, hab’ ich nie gehört!“

Mamsellchen beobachtete ihren Doktor scharf und mit durchbohrendem Blick, wie ein Kriminalpolizist sein Opfer. Sie kannte sich aus in seinem Gesicht, aber sie durfte zufrieden sein, – er war wirklich ratlos, völlig ratlos.

Mit einem abermaligen Kopfschütteln setzte er sich in seinen Lehnstuhl und begann zu lesen. Mamsellchen, deren Anwesenheit er ganz vergessen zu haben schien, las mit, immer mehr, auf den Fußspitzen stehend, den Hals so lang machend wie irgend möglich.

 „Sehr geehrter Herr Doktor!
Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, werden kaum mehr als den Namen des Kindes wissen, das vor nun fast neun Jahren, da Sie meine liebe verstorbene Mutter besuchten, scheu und still durch die Zimmer huschte und auf all Ihre freundlichen Fragen nur einsilbige schüchterne Antworten hatte. Dennoch weiß ich jede Einzelheit aus der kurzen Zeit, die Sie damals bei uns zubrachten, ganz genau. Hatte doch meine Mutter oft Ihren Namen genannt, jedesmal mit dem Zusatze, der Träger dieses Namens sei der beste, liebste Freund, den sie auf der weiten Welt besäße, ein Freund, so treu und zuverlässig, daß sie jederzeit fest auf ihn und seine Hilfe bauen könne, der einzige Mensch, von dem sie selbst Wohlthaten annehmen würde, da sie wisse, in welchem Sinn und Geist er sie ihr erwiese.

Solche Worte meiner Mutter, die ich als ausnehmend stolz und zurückhaltend kannte, von der ich wußte, daß sie namhafte Unterstützungen, die man ihr angeboten, ohne weiteres zurückgewiesen hatte, weil die Art und Weise, wie man dies that, ihr empfindliches Zartgefühl verletzten – solche Worte, sage ich, blieben nicht ohne Eindruck auf mich, die ich, als einzige Vertraute meiner Mutter, ein frühreifes Kind genannt werden konnte. Und als Sie dann selbst in unser Haus kamen, ich Sie sah und sprechen hörte, da wurde dieser Eindruck in mir bedeutend verstärkt. Ich hatte früher willig alles Gute von Ihnen geglaubt, weil es meine Mutter war, die es mir sagte; fortan glaubte ich es, weil ich aus eigener Beobachtung auf die Wahrheit des Gesprochenen schwören zu können meinte.

Als dann meine Mutter starb, da ich kaum siebzehn Jahre zählte, wurde es mir nicht schwer, ihr das Versprechen zu geben, das sie mir abforderte: das Versprechen, in Ihnen, geehrter Herr Doktor, meinen besten Freund und Berater zu sehen und mich in jeder Bedrängnis meines Lebens an Sie zu wenden.

Fürs erste war dies nicht notwendig. Ein Vetter meines verstorbenen Vaters, der mein Vormund wurde, nahm mich in sein Haus und verwandte den Rest meines kleinen Vermögens auf meine Ausbildung. Ich hatte es gut in jenem Hause, und als nach kaum zwei Jahren mein Gatte um mich warb, bin ich ihm willig gefolgt und man hat mich ihm willig gegeben.

Seit länger als einem vollen Jahr bin ich Witwe. Eine schwere Typhusseuche raffte meinen Mann dahin, und bei seiner Pflege ergriff die Krankheit auch mich und warf mich monatelang danieder. Hier nun, in der fremden Stadt, auf fremde Hilfe angewiesen – mein Vormund ist schon seit längerer Zeit gestorben – körperlich und seelisch todesmatt, weiß ich mir nicht anders zu helfen, als indem ich mich der oft wiederholten Worte meiner Mutter erinnere. Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können, daß ich Ihre thatkräftige Hilfe, verehrter Freund – darf ich Sie so nennen? – nicht lange in Anspruch nehmen werde. Ich bin jung, bin niemals außer jener einen ernsten Krankheit leidend gewesen, ich habe den ernstlichen Willen, zu arbeiten, mir weiter durchs Leben zu helfen, sobald der jetzige Zustand körperlicher Schwäche und moralischer Mutlosigkeit überwunden ist. Wollen Sie es daraufhin eine Zeit lang, sagen wir bis zum Herbst, mit der Tochter Ihrer einstigen Pflegeschwester wagen? Ich habe an den Bankier geschrieben, den Sie meiner Mutter vor dem Antritt Ihrer großen Reise nannten, und er hat mir Ihre Adresse sowie die Thatsache mitgeteilt, daß Sie dauernd in Deutschland zu leben gedächten und sich zu diesem Zweck eine Villa nahe bei G. gekauft hätten. Wollen und können Sie mich dort für einige Monate bei sich aufnehmen, damit ich in Ruhe Kräfte sammeln und Schritte zur Begründung einer neuen Existenz thun kann, oder ziehen Sie es vor, mich an einem andern Ort unterzubringen? Jede Form, die Sie wählen, ist mir recht, zumal mein Leiden allgemeiner Art ist und keiner besonderen Heilmethode, nur der Ruhe und Schonung bedarf.

Was Sie, verehrter Herr Doktor, für mich thun, das geschieht meiner Mutter zuliebe, und in ihrem Namen dankt Ihnen heute schon
 Ihre Ihnen warm ergebene
 Gabriele Hartmann.“

Doktor Röder war längst mit seiner Lektüre zu Ende, und noch immer starrte er ganz tiefsinnig auf das Briefblatt in seiner Hand. Zuletzt ließ er es sinken und sah Mamsellchen an. Mamsellchen sah ihn wieder an. Keines von beiden sprach ein Wort.

„Hast Du alles gelesen?“ fragte der Hausherr endlich.

Die Alte nickte ein wenig schuldbewußt.

„Und – und – was meinst Du?“

Sie zog die Augenbrauen noch höher als gewöhnlich. „Ich? Was hab’ ich zu meinen? Hat sie an mich geschrieben? Hat sie mich um irgend ’was gebeten? Hab’ ich ’ne Villa und Geld?“

„Schon wahr!“ Der Doktor zog seinen langen weichen Schnurrbart durch die Finger und drehte ihn fadendünn aus. „Uebrigens, es versteht sich ja von selbst, daß ich sie zu mir kommen lasse – Margots Tochter! Du besinnst Dich auf Margot, Mamsellchen?“

„Gott, bin ich denn ohne Sinn und Verstand? Ich und unsere Margot nicht kennen – wo ich geschlagene zwölf Jahre mit ihr in ein und demselben Haus gewesen bin. War ein lustiges liebes Dingelchen, bildhübsch – wie sah denn dazumal die Tochter aus und wie alt war sie?“

„Ja, wie sah sie aus?“ Röder rieb sich die Stirn mit dem Zeigefinger, als könnte das sein Gedächtnis auffrischen. „Wenn ich nur wüßte – ich schäme mich förmlich vor Dir und vor mir selber, aber ich habe gar keine Erinnerung mehr an das Kind. Ich wußte nicht einmal mehr, daß es Gabriele hieß. Ich hatte damals nur Interesse für Margot, war um ihretwillen nach Brüssel gereist, und die Kleine – blaß war sie und scheu, ganz unähnlich ihrer Mutter – so zwischen zwölf und vierzehn Jahren kann Gabriele gewesen sein, sie muß also sehr jung geheiratet haben, ebenso wie ihre Mutter – und so früh Witwe geworden! Aber es macht mich glücklich, sehr glücklich, daß sie gerade an mich denkt, sich an mich wendet – selbstverständlich nehme ich sie zu mir.“

„So?“ Mamsellchen zog die Silbe endlos lang aus.

„Nun, natürlich, was dachtest Du denn?“

„Ich? Was soll ich wohl denken? Und wenn ich mir ‘was denk‘, das ist denn doch ohne Bedeutung!“

„Hin! Und welche Zimmer meinst Du? Natürlich die besten im ersten Stock. Ich denke das dunkelrote als Wohnzimmer und das kleinere daneben. Die haben den schönsten Blick über Garten und Wald.“

„Ja, den haben sie!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_022.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)