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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Leiden, das nicht selten sogar durch das ganze Leben fortbesteht. Die gebräuchlichsten Mittel haben sich ihm gegenüber alle als für die Dauer wirkungslos erwiesen und nur von einer Umgestaltung der Lebensweise nach hygieinischen Principien ist noch Erfolg zu erhoffen.

Im Gegensatz zu den bisher betrachteten beiden Arten von Kopfschmerzen, die mehr auf allgemeinen Ursachen beruhen, schließen sich andere an bestimmte krankhafte Störungen in einzelnen Organen an. Bekannt ist der Kopfschmerz bei verdorbenem Magen oder überhaupt bei Magen- und Darmleiden. Wie man neuerdings annehmen zu müssen glaubt, ist die Ursache in diesen Fällen die Aufnahme gewisser giftiger Zersetzungsprodukte, die sich bei gestörter Verdauung bilden, sogenannter Ptomaïne, in das Blut, wodurch dieses eine krankhafte Veränderung erfährt, die sich neben anderen Erscheinungen auch im Kopfschmerz äußert. Aehnlich liegen die ursächlichen Beziehungen bei einer Reihe anderer Vergiftungen. Wir verweisen auf den Kopfschmerz nach reichlichem Alkohol- und Tabaksgenuß („Katzenjammer“) und nach Einatmung von Chloroform, Kohlendunst (Bügler- und Plätterinnenkopfschmerz) und von Leuchtgas. Die Anwesenheit der beiden letzten in den Wohnräumen ist in vielen Fällen die Ursache anhaltender Kopfschmerzen der Bewohner, ohne daß diese die Quelle ihres Leidens ahnen. Nach Gebrauch von Opium, Morphium u. a. stellen sich gleichfalls leicht Schmerzen im Kopfe ein. Auch der Stubenhockerkopfschmerz, an dem alle Menschen leiden, die sich dauernd in geschlossenen Räumen aufhalten, gehört unter diese Rubrik. Es ist nämlich nicht, wie man bisher angenommen hat, die schlechte Luft an sich, die das Uebel erzeugt und unterhält, sondern das Einatmen einer giftigen Substanz (Anthropotoxin, „Menschengift“), die sich überall dort bildet, wo Menschen während längerer Zeit in geschlossenen Räumen verweilen.

Eine mehr äußerliche Ursache bilden örtliche Erkältungen des Kopfes. Dieser sogenannte rheumatische Kopfschmerz, der seinen Sitz in der Kopfhaut hat und sich bei Verschiebungen derselben verschlimmert, was ein Kennzeichen für ihn bildet, kommt indessen seltener vor, als man gewöhnlich annimmt. Wie man überhaupt nur zu geneigt ist, der „Erkältung“ alle möglichen Gesundheitsstörungen in die Schuhe zu schieben, an denen dieselbe ganz unschuldig ist.

In neuester Zeit ist man auf gewisse Erkrankungen der Nasenhöhle, des Rachens, der Ohren und Augen aufmerksam geworden, die mit anhaltendem Kopfschmerz einhergehen, der dann aber mit der Besserung des ursprünglichen Leidens verschwindet. Bekannt ist ja, daß schon ein gewöhnlicher, etwas heftiger Schnupfen von starkem Stirnkopfschmerz begleitet sein kann. Daher darf es nicht wunder nehmen, daß auch andere Erkrankungen der Nase, Polypen und chronische Katarrhe aller Art, derartige schmerzhafte Empfindungen veranlassen. Die Ursache derselben ist eine Reizung der in der Nasenhöhle sich ausbreitenden feinen und äußerst empfindlichen Nervenendigungen, was schon in gelinden Fällen als unangenehmer Kitzel, bei stärkeren Angriffen aber als direkter Schmerz sich dem Bewußtsein mitteilt. Diese Reizung wird nur veranlaßt durch Schwellung der Nasenschleimhaut, wobei die Nervenfädchen gedrückt und gezerrt werden. Dasselbe verursachen auch Polypen. Manche Personen, die seit Jahren an „Stockschnupfen“ leiden, bekommen bei jedem Umschlag der Witterung ihren ihnen nur zu bekannten Kopfschmerz, indem eben bei größerer Feuchtigkeit der Luft die Nasenschleimhaut mehr Wasser aus der Atmosphäre aufnimmt und damit stärker anschwillt. Und wie der Gichtiker, der Rheumatiker oder der mit Hühneraugen Behaftete aus den sich ankündenden, ziehenden Schmerzen einen Temperaturwechsel prophezeit, so bildet für manche Nasenleidende der sich bemerkbar machende Kopfschmerz ein Barometer von vielleicht untrüglicherer Zuverlässigkeit als ihr am Fenster hängendes Instrument. Nun steht bekanntlich das Ohr (Mittelohr) durch eine Röhre (die Eustachische Ohrtrompete) mit der Rachenhöhle und diese wieder mit der Nasenhöhle in Verbindung, daher kann es nicht auffallend sein, daß auch Erkrankungen dieser Organe schmerzhafte Empfindungen im Kopfe verursachen. Ja häufig bilden letztere überhaupt die einzigen subjektiven Zeichen derartiger Erkrankungen, weshalb man sich jetzt veranlaßt sieht, in allen Fällen von anhaltendem Kopfschmerz zunächst einmal die erwähnten Organe einer näheren Besichtigung zu unterwerfen. Ist doch auch gerade hier die Behandlung die dankbarste, indem meist schon bei geringer Besserung des Grundleidens die Kopfschmerzen schwinden. Von Erkrankungen der Augen sind es vorzugsweise die Sehstörungen infolge fehlerhafter Brechung der Lichtstrahlen – Kurz- und Weitsichtigkeit – die namentlich bei Kindern häufig Kopfschmerzen verursachen. Eine ganze Anzahl von Fällen ist bekannt, wo Personen von ihrem jahrelangen derartigen Leiden dadurch befreit wurden, daß man ihnen eine passende Brille verordnete. Allerdings muß das Glas auch wirklich passend sein, andernfalls werden nicht nur die Augen geschädigt, sondern wird gerade das erzeugt, was man vermeiden soll, bezw. beseitigen will, nämlich eben wieder Kopfschmerzen.

Außer den bisher erwähnten giebt es nun noch eine Reihe von Fällen, in denen sich für den Kopfschmerz eine bestimmte Ursache nicht nachweisen läßt. Altem Herkommen gemäß nennt man diese Art „nervöse“ Kopfschmerzen, welcher Ausdruck aber nur als Lückenbüßer für unsere Unwissenheit aufgefaßt werden darf, insofern wir das Leiden nicht anders zu rubrizieren vermögen. Der Laie allerdings ist nur zu sehr geneigt, jeden Kopfschmerz, den er nicht auf „Erkältung“ zurückführt, als „nervös“ auszugeben. Der sogenannte nervöse Kopfschmerz entwickelt sich vorzugsweise bei aufreibender geistiger Thätigkeit, so namentlich bei Künstlern, Büchergelehrten, Schriftstellern, Großkaufleuten, Finanzmännern und ähnlichen Berufen. Er ist dann das Symptom einer Ueberreizung der Gehirnnerven.

Auch schon unter der Schuljugend grassiert dies Leiden in schreckenerregender Weise. Vor einiger Zeit hat Professor Bystrow in Petersburg eine bezügliche Statistik veröffentlicht. Danach litten von 7478 in einem Zeitraum von 5 Jahren untersuchten Schulkindern 868, d. h. 11,6 % an Kopfschmerzen. Diese fanden sich um so häufiger, je älter die Kinder waren, so z. B. im Alter von 14 bis 18 Jahren bei 28 bis 40 %. Die Ursache für diese auffallende Erscheinung sieht der Petersburger Gelehrte in der geistigen Ueberbürdung (was er an der Hand von Schulprogrammen nachweist), nicht aber in den ungünstigen hygieinischen Verhältnissen der Schullokale, indem Kinder, die Hausunterricht genießen, in gleicher Weise[WS 1] von dem Leiden ergriffen seien. Natürlich muß man zur richtigen Beurteilung solcher Fälle alle obenerwähnten Organerkrankungen ausschließen können, um zur Annahme eines rein durch geistige Ueberanstrengung bedingten Leidens zu gelangen. Auch wird man die kürzlich von Dr. Salemi in Nizza gemachte Beobachtung berücksichtigen müssen, wonach bei Kindern sogenannte Wachstumskopfschmerzen, welche also ausschließlich durch die körperliche Entwicklung bedingt sind, keine allzu seltenen Vorkommnisse bilden. Alles in allem wird dann immer noch eine bedeutende Anzahl von wirklich rein durch zu große Inanspruchnahme der kindlichen Geisteskräfte verursachten Kopfleiden übrig bleiben, die man in Ermangelung einer greifbaren krankhaften Organveränderung, nach Analogie der bei Erwachsenen vorkommenden, eben als „nervös“ bezeichnen muß.

Zum Schluß noch einige Andeutungen hinsichtlich der Behandlung der Kopfschmerzen. Es ist selbstverständlich, daß man in allen Fällen zunächst nach einer Grundursache forschen und diese zu bekämpfen bemüht sein muß. Das ist indessen Sache des Arztes. Dem Kranken aber liegt es ob, zunächst einmal sich einer bezüglichen ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen, indem nach den oben entwickelten ursächlichen Beziehungen es in vielen Fällen vielleicht nur eines geringen ärztlichen Eingreifens bedarf, um den jahrelangen Quälgeist zu bannen. Leider aber beliebt es der großen Mehrheit der Kopfkranken, sich einem unheilvollen Zuwarten hinzugeben, doppelt unheilvoll, einmal durch das Verharren in gesundheitswidrigen Lebensgewohnheiten und zweitens durch die Vorliebe für gewisse Mittel, die zwar den augenblicklichen Schmerz lindern bezw. beseitigen, aber infolge ihrer giftigen Eigenschaften nachteilig auf den Körper einwirken. Und damit kommen wir zu der zweiten und dritten Aufgabe, die zu erfüllen dem Kranken obliegen: gesundheitsgemäße Lebensweise und strenge Vermeidung aller „Nervenmittel“. Das A und O der ersteren ist für Kopfleidende, die sitzende Lebensweise führen, reichliche Körperbewegung, etwa nach dem Vorbilde jenes Erzbischofs, von dem Dr. Smiles in seinem Werke „Leben und Arbeit“ erzählte, daß derselbe, sobald sich infolge vielen Studierens Kopfschmerzen einstellten, sich, wie ein gewöhnlicher Arbeiter gekleidet, an das Fällen von Bäumen machte und, unbekümmert um Wind und Wetter, sich dieser Arbeit solange hingab, bis ein reichlicher Schweißausbruch erfolgte. Ein böses Kapitel ist das von den verschiedenen, gegen den Kopfschmerz üblichen Medikamenten, vorzugsweise deshalb, weil dieselben meist ohne ärztliche Verordnung und ganz nach Belieben gebraucht werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: …, die Handunterricht genießen, nicht in gleicher Weise … ; vergl.: Zentralblatt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und gerichtliche Psychopathologie, Band 9.1886, S. 351, Google.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_018.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)