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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


beruht nur auf etwas starker Betonung des Eigenartigen der Tracht, zumeist aber darauf, daß die Thorheit von vorgestern den „Verständigen“ als erlaubt erscheint, weil sie die Thorheit von heute mitzumachen zu alt wurden. Und das eine Prozent der Weisen, die sich nach eigenen ästhetischen Gesetzen kleiden, an diesen habe ich meist die Beobachtung gemacht, daß sie die allergrößten Narren sind, regelmäßig aber, daß sie von allen ihren Mitbürgern, Verständigen wie Geschmackvollen, dafür gehalten wurden!

Und darum sind oder waren alle jene Hüte und Mützen, Tücher und Bänder schön, welche unsere Bilder bringen. Sie entsprachen dem Geschmack ihrer Trägeriunen, sie machten diese ihren Männern und Verehrern liebenswerter, sie erfüllten einen höheren Zweck, als vor Schnupfen oder Kopfweh zu behüten, indem sie dem ästhetischen Bedürfnis ihrer Zeit genügten.

Und dann machten sie ja doch den „Verständigen“ noch einen besonderen Spaß: ein jeder konnte an ihnen das Gefühl der geistigen Ueberlegenheit sich verschaffen. Und so ist’s geblieben! Erst hat man seinen Beutel gezogen und mit Murren den neuen Blumenhut bezahlt; und dann darf man über den „Unsinn“ schimpfen, des allgemeinen Beifalls – unter Männern sicher!




Um eine Kleinigkeit.

Novelle von Jassy Torrund.

Franzel Wodrich sitzt am Fenster ihres elegant und behaglich eingerichteten Wohnzimmers, atmet den süß berauschenden Duft blühender Hyazinthen, die vor ihr auf dem Fensterbrett stehen, schaut in das prächtige Schneetreiben jenseit der hohen, klaren Glasscheiben hinaus – und sinnt und grübelt, zermartert ihr junges Hirn in schwerer Bedrängnis. Wie glücklich könnte sie sein – und wie elend ist sie! Seit Wochen schon! Und der Platz, wo sie auch in diesem Kummer Rat und Trost und Hilfe finden könnte, ist ihr genommen. Ihr Gatte ahnt nichts von all der Pein, die ihre Seele quält, die wie ein Alpdruck auf ihr lastet, ihr den Frieden des Tages und die Ruhe der Nächte raubt. Er darf und soll es auch nie erfahren – bis alles überstanden sein wird!

So sitzt sie nun schon seit Stunden, starrt auf den wehenden Schnee, als müsse sie jede einzelne Flocke zählen, und denkt doch nicht an den Schnee und nicht an den köstlichen Hyazinthenduft. Sie denkt an nichts, an gar nichts anderes, als daß sie in wenigen Wochen wie eine Verbrecherin auf der Anklagebank sitzen soll, den unerbittlichen Fragen der Richter, den staunenden neugierigen zudringlichen Augen des Publikums preisgegeben.

O guter Gott!

Das junge Weib zittert am ganzen Leibe, faltet die Hände krampfhaft zusammen und seufzt aus tiefstem Herzen.

Wie ist das alles doch nur gekommen?

Ach, wie soviel hundert schwere Dinge über uns kommen, ungeahnt und ungewarnt, und wie wir so manchem Verhängnis blindlings in die Arme laufen – um eine Kleinigkeit!

In irgend einem Geschäft hat die Regierungsrätin Wodrich etwas arbeiten lassen, was nicht nach ihrem Wunsche ausfiel. Sie verweigerte die Annahme, sagte ein paar laute hastige tadelnde Worte; der Kaufmann, der sich in seiner Geschäftspraxis benachteiligt glaubte, wurde grob, was die feine junge Frau natürlich noch mehr reizte. Ein Wort gab das andere, und als Franziska endlich das Geschäft verließ, schrie der erzürnte Mann hinter ihr her, sie hätte ihn beleidigt, er würde sie verklagen. Trotz ihrer Aufregung mußte sie lachen, die ganze Affaire kam ihr so unglaublich kindisch vor, aber der Mensch hielt Wort. Er citierte sie zunächst vor den Schiedsrichter, und da sie nicht hingegangen war, hatte er sie thatsächlich verklagt. Seit zwei Tagen lag diese unselige Anklage im tiefsten Fach von Franzels Schreibtisch verborgen. Und ihr Gatte ahnte nichts davon! Sie saß an seinem Tisch, sie ruhte in seinen Armen – sie, eine Angeklagte! Und sie hatte nicht das Herz, ihrem natürlichen Beschützer das Schreckliche einzugestehen – das war ja eben das Schlimmste bei der ganzen Sache!

Vor einiger Zeit nämlich, als eine bekannte Dame in einer dummen Dienstbotenangelegenheit vor Gericht mußte – eine Sache, die sehr viel Staub aufwirbelte und durch alle Lokalblätter ging – da hatte Regierungsrat Wodrich mit großem Ernst gesagt: „Nimm Dir daran ein warnendes Beispiel, Franzel! Du hast auch immer den Mund so vorweg und redest oft hastige Worte. Wenn Du mir das jemals anthätest – meine Frau vor Gericht, dem skandalsüchtigen Publikum preisgegeben! Höre, Franziska, ich wüßte nicht, was ich thäte! Ich glaube, ich könnte Dir nie verzeihen!“

Und Franzel mit ihrem guten Gewissen hatte ihm damals die strenge richterliche Miene fortgeplaudert und fortgeküßt und nun, kaum ein Vierteljahr später, war es wahrhaftig mit ihr selber so weit gekommen! O Gott, mein Gott!

In all dem dumpfen Angstgefühl, das ihre Seele bedrückte, war ihr zunächst nur das Eine klar geworden: Ernst durfte nichts wissen, bis alles vorüber sei und sie freigesprochen wäre. Sie mußte ja freigesprochen werden, sie war ja in ihrem Recht! Aber bis dahin, bis dies erlösende Wort gesprochen wäre, mußte sie die schwere Last allein tragen. Regierungsrat Wodrich, der strengdenkende pflichttreue Beamte, sollte nicht eine Sekunde lang erröten oder die stolze Stirn beugen müssen in dem demütigenden Bewußtsein, daß seine Frau, die Hüterin von seines Hauses Ehre, eine Angeklagte sei.

Dieser eine Punkt also stand unumstößlich fest in Franzels Seele, und wahrlich, es bedurfte einer großen Energie für die lebhaft empfindende kleine Frau, ihren tapferen und dennoch so thörichten Entschluß durchzuführen. Aber es gelang. Sie ging im Hause umher wie sonst, sie lachte und scherzte mit ihrem Gatten, sang ihm seine Lieblingslieder und spielte ihre abendliche Schachpartie mit ihm. Kurz, die kleine Heldin ließ sich nicht das geringste anmerken. Nur, wenn sie allein war, dann kam der Kummer zum Durchbruch, dann durchfröstelte die Angst gleich einem Fieber ihre junge Seele. Was thun, was thun?

Sie hielt es endlich nicht mehr aus und holte sich Rat bei einer alten Freundin, die sie auf jenem Unglückswege begleitet hatte und somit ungewollt ihre Zeugin geworden war.

„Du mußt es Deinem Manne sagen!“ war das erste Wort, das die erschrockene alte Dame ihr erwiderte.

„Tante Rätin, ich kann nicht! Sieh …“ und nun legte sie ihre Gründe klar und sprach so fest, so eindringlich, so überzeugend, daß sogar die erfahrene Frau ihr recht geben mußte.

„Ja, wenn die Eltern hier wären, denen würde ich’s schon sagen. Aber so – sie würden sich höchstens ängstigen, und helfen könnten sie mir ja doch nicht!“ Franzel schwieg und sah ihre alte Freundin mit großen kummervollen Augen an.

„Hast Du denn niemand in der Nähe, der Dir raten könnte, keinen Freund, keinen Verwandten?“ begann die Rätin aufs neue und strich dem bekümmerten jungen Weibe liebevoll die verwirrten Haare aus der Stirn.

Franzel schüttelte den Kopf.

„Verwandte? nein. Die Brüder sind beide in Berlin, das weißt Du ja. Vettern habe ich nicht, aber …“ sie stockte, eine flüchtige Röte kam und ging auf ihrem blassen sorgenvollen Gesichtchen.

„Nun?“

„Ich hätte wohl einen Freund,“ sagte Franzel langsam und nachdenklich. „Der ist noch dazu Rechtsanwalt, und ich weiß, er würde sicher alles thun, um mir zu helfen.“

„Aber, Herzel, daß mir das nicht gleich einfiel! Siehst Du, einen Rechtsanwalt brauchen wir ja gerade. Zu dem mußt Du gehen, dem mußt Du alles sagen. Ganz offen, wie einem Beichtvater. Der wird dann schon alles in Ordnung bringen. Vielleicht vertritt er Dich, und Du brauchtest dann gar nicht erst vor Gericht.“

„Ja, – aber …“

„Aber was?“

„Ich fürchte, Ernst würde es nicht gern sehen, wenn ich zu dem Rechtsanwalt ginge.“

„Warum denn nicht?“

„Weil, weil – – ach, weißt Du, Tantchen, der hat mich nämlich früher ’mal sehr lieb gehabt und wollte mich heiraten. Aber ich hatte doch nur Ernst im Sinn und mochte von keinem anderen etwas hören.“

„Das ist freilich dumm,“ bemerkte die alte Dame kopfschüttelnd. „Da mußt Du schon zu einem anderen gehen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_012.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)