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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

immer neue Formen zu kleiden weiß, des Geschmackes. –

1. Französischer Hut aus dem Jahre 1800 (chapeau à la Gaulois). – 2. Schwedische Brautmütze aus der Landschaft Schonen. – 3. Wollmütze der Passeyerin (Tirol). – 4. „Tudung“, Hut aus Palmblättern, von der Sunda-Insel Timor. – 5. Schwedische Frauenhaube mit künstlichen Blumen. – 6. Pariser Strohhut aus dem Jahre 1800 (chapeau de sparterie), der Vorläufer des sogen. Tunnelhutes. – 7. Mädchenmütze in der niederländischen Provinz Friesland. – 8. Kopftuch einer norwegischen Braut aus dem Amt Söndre-Bergenhus.

Der Geschmack ist jetzt bei den Verstandesleuten in sehr schlechtem Ruf. Er ist völlig diskreditiert. Und es fehlt nicht an handgreiflichen Beweisen dafür, wie recht dieser Ruf hat. Unsere Bilder stellen solche zur Benutzung zusammen. Die vornehme Wienerin von 1838 glaubte entschieden, Geschmack zu haben. Und sie steht doch wahrlich hinsichtlich der verständigen Ausbildung ihres Hutes ein tüchtiges Stück hinter der Wilden aus Niederländisch-Indien. Jene hat den für den Sonnenbrand berechtigten Hut, während die Wienerin im Theater ihre „Kiepe“ trug, wo sie nicht hinpaßt. Man könnte zu Hunderten solche Beispiele herbeibringen, daß gerade mit der „Bildung“ der Frauen der bessere Geschmack der „Wilden“ verloren ging.

Schleierhut der Jüdinnen
in Algier.

Mütze einer Bergbewohnerin
von Assam in Bengalen.

Geschmack ist ein untergeordneter Sinn, sagen die Gelehrten, er beruht nicht auf Gesetzen, er beruht nur auf der Willkür. Schönheit kann aber nur auf festem Grund sich aufbauen. Der Geschmack ist schuld an einer Reihe der größten Ausschreitungen der menschlichen Thorheit. Was soll der Lampenschirm auf dem Kopf der Frau aus dem Maconnais und die Zwiebel auf dem Wirbel jener von Pollet? Ist es schön, eine Jockeymütze mit weit vorspringendem Schild zu tragen, wie es in Frankreich der Chapeau à la Gaulois, oder den Kopf in eine Strohdecke zu wickeln, wie der Chapeau de sparterie, beide um 1800, forderten? Wozu die schwere Wollgogel der Passeyerinnen im Sommer und der ganze Klimbim von Flittergold um den Turban des Wüstenkindes der Sahara, wozu die wackelnden gesteiften Schleifen über dem Scheitel der Schwedin und Japanerin (s. S. 8) – Ausgeburten des Geschmackes, lächerlich, häßlich! „Setzen Sie mir ’mal ein solches Ding auf und sehen Sie selbst zu, wie alle Welt über Sie lachen wird! Unmöglich, der falsche Geschmack führte zur vollendeten Geschmacklosigkeit!“

Geschmack ist, wie die Franzosen aus der Zeit Racines lehrten, eine sehr hohe Geisteseigenschaft, nämlich die Fähigkeit, das Vollkommene vom Schönen zu unterscheiden. Andere lehren, es sei die Fähigkeit, aus den Dingen das größte Vergnügen zu ziehen. Und sie haben recht: die Leute von Geschmack sind stets guter Dinge, wo sich die von Verstand ihr ganzes Leben lang ärgern müssen. Man forderte vom Geschmack Delikatesse. Diese ist nicht ein Ergebnis der vom Verstand zu erfassenden Wahrheit. Im Gegenteil – in ihr muß ein Schimmer von Falschheit sein, etwas, was dem Gesetzmäßigen widerspricht, ein Zug des Ungewöhnlichen, das überrascht und den Beobachter reizt. Man verstand damals, in den Tagen des Rokoko, besser, wie unsere heutige Kritik es zumeist thut, worauf es in allem künstlerischen Schaffen ankommt: nicht auf die Erreichung eines klar erkannten Zieles, eines Ideales, sondern auf die Schaffung selbständiger eigenwilliger Ziele, auf die Ausgestaltung seiner selbst zum Ideal und damit in der Kleidung auf die Delikatesse, d. h. auf den eigenen Geschmack.

1. Kopftracht der Frauen in der Landschaft Maconnais im französischen Departement Saône-Loire. – 2. Sonntagshaube der Hökerinnen von Bordeaux. – 3. Schwarzer Frauen- und Männerhut aus den zwanziger Jahren in der portugiesischen Provinz Minho. – 4. Arnautin aus Janina. – 5. Kopftracht der christlichen albanesischen Frau im Hause. – 6. Frauenhut von Pont-l’Abbé (Niederbretagne). – 7. Weiße Festhaube der Frauen von Pollet in der Normandie.

Der Geschmack ist Sache des Gefühls. Zwei Dinge kämpfen in ihm: die jedem Menschen eigene

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_010.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)