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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Die „Behauptungen“ der Damen.[1]

Von Cornelius Gurlitt.
Mit Abbildungen von Oskar Groß.

1. „Topur“, in Vorderindien übliche Haube aus Pflanzenmarkplatten und Silberpapier. – 2. Peruanischer Kopfschmuck mit Federn. – 3. Mit Kaurimuscheln besteckter Hut aus dem Gebiet des oberen Weißen Nils. – 4. Haube einer Verlobten aus der schwedischen Landschaft Schonen. 5. In Schweden übliche Frauenhaube. – 6. Japanische Kopfbedeckung aus schwarz lackiertem Drahtgeflecht. – 7. Wiener Damenhut von 1838. – 8. „Tolhe Maba“, Frauenhut aus Niederländisch-Indien.

Zwei Parteien stehen sich in allem, was die Mode und namentlich die Frauenkleidnng betrifft, mit gezückten Waffen gegenüber: die Leute von Verstand und die Leute von Geschmack. Die Leute von Verstand nennen die von Geschmack im gemeinen Leben einfach Narren, schütteln den Kopf über sie und lächeln behaglich, wenn einmal über die neueste Verrücktheit der Mode in der Zeitung ein recht saftiger Artikel steht. Die Leute von Geschmack kümmern sich um die Verständigen einfach nicht; sie sind ihnen Luft und ihr Gezeter rührt sie so wenig wie den Mond das Bellen des Mopses. Für das zahnlose Umsichbeißen der Klugen haben sie nur ein verächtliches Lächeln; und nur dann hören sie mit halbem Ohr der Weisheit jener zu, wenn es gilt, aus ihnen die Geldmittel heraus zu pressen, um eine neue „Verrücktheit“ zu begehen. Und da zeigt sich dann in der Regel, ja fast ausnahmslos, daß der Geschmack stärker ist als der Verstand. Nach einer Zeit des Scheltens und Polterns verkriecht sich die Logik in ein Mauseloch und zahlt ihr Besitzer die schönen blanken Zwanzigmarkstücke auf den Tisch, damit der Unverstand sich weiter entwickeln könne!

Wer hat diesen Sieg der Thorheit nicht an sich selbst erlebt? Nur jener, der noch nie mit der Geliebten, der Frau oder Tochter am Schaufenster einer Modistin vorbeiging. Dort sind die Stätten, an welchen unsere hochwohlweise Aesthetik, die Lehre vom Schönen, sich die Beine brach, so daß sie heute nur hinkend daher kriecht und selbst die Aesthetiker nicht mehr recht etwas von ihr wissen wollen.

1. Anamitischer Hut aus Palmblattstreifen. – 2. Französischer Frauenhut (Tschako) aus dem Jahre 1793. – 3. Friesischer Frauenhut. – 4. Festhut aus Bambusgeflecht, mit rot-schwarz-weißem Kattun überzogen und mit Goldblechperlen verziert, von der Insel Borneo. – 5. Sibirischer Frauenhut aus schwarzem Tuch, blau gefüttert, mit weißen Zieraten und gelben und roten Bindebändern.

Ich will von den Hüten und Mützen, von Kopftüchern und Schleiern der Damen sprechen und beginne mit der Logik, mit der Wissenschaft des Schönen! Wie reimt sich das zusammen?

Vor zehn, zwanzig Jahren wußten wir ganz genau, was schön sei, auch im Gewerbe. „Was seinen Zweck erfüllt und seinem Herstellungsstoff gemäß ist“ – hatte der große Architekt Gottfried Semper uns zu antworten gelehrt. Dieser Satz, vom logischen Verstand auf unsere Frage angewandt, lautet: Zweck einer Kopfbedeckung ist, den Kopf vor Hitze und vor Kälte zu schützen: der Hut, der das erfüllt, ist also schön. Und dann kann man weiter gehen: Für heiße Länder ist ein Schattenspender, für kalte ein erwärmender Kopfputz schön. Und umgekehrt: Häßlich ist ein leichter Hut im Winter und ein warmer im Sommer. Und alles, was außerhalb der Zweckerfüllung liegt, das ist vom Uebel! Höchstens ist noch nötig, daß ein Strohhut wie ein Strohhut und eine Spitzenhaube wie eine Spitzenhaube aussieht; nicht aber ein Strohhut wie eine Spitzenhaube.

Das sind Lehrsätze der Verständigen. Und weil’s solche sind, haben sie nie ernsthaften Einfluß auf die Leute von Geschmack gehabt. Le superflu, chose très-nécessaire – das Ueberflüssige ist das Nötige – haben diese zu allen Zeiten geantwortet. Natürlich wird eine Frau von Geschmack nicht im Winter einen Strohhut aufsetzen – es sei denn, die Mode fordert es! Denn man erkältet sich nicht gern den Kopf – es sei denn, die Mode fordert es. Man thut ja das Naturgemäße selbstverständlich – aber wenn das Gegenteil von der Mode vorgeschrieben wird, so bleibt doch wohl nichts anderes zu thun übrig, als was sie will. Und das war immer so – jetzt und zu allen Zeiten.

Drusischer Kopfputz aus der Gegend von Damaskus. (Das unter dem Kinn geknüpfte Kopftuch „Puschi“ wird von einem silbernen Aufsatz „Tantur“ gekrönt, von welchem metallene Ohrenklappen herunterhängen.)

Man braucht nur unsere Bilder durchzusehen. Ob so eine Kopfbedeckung aus Peru oder vom Weißen Nil stamme, ob ein eng gebundenes Tuch um den rundlichen Kopf eines Japanermädchens oder einer Albanesin liegt, ob ein umständliches Geflecht mit Goldblechperlen die Wilde der Insel Borneo oder ein hohes Gestell aus Glasperlen jene des Araukanerstammes schmückt; die Düte auf dem Kopf der Drusin oder der algerischen Jüdin, die weitschweifigen Kopftücher und Hauben in Schweden und Norwegen: da ist der Zweckerfüllung überall nicht die leitende Hand zugestanden worden, da leidet sie überall unter dem Eingriff einer geheimnisvollen ständig wechselnden Macht, die sich in

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_008.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)
  1. Bei dem Ernst, den das Kapitel der Damenhüte für jeden wirtschaftlich veranlagten Familienvater hat, dürfte es gut sein, die kulturhistorische Behandlung desselben mit einigem Humor anzufassen. Statt unsere Abbildungen von allerhand weiblichen Kopfbedeckungen, welche die Kultur und Mode in den verschiedensten Zeiten und Völkern aufgebracht hat, mit einem trockenen Kommentar zu erläutern, haben wir ihnen die interessanten allgemeinen Ausführungen mit auf den Weg gegeben, zu welchen sie den geistvollen Verfasser veranlaßten.Die Red.