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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


„Kommt der Frühling noch nicht bald?“ Und um die Füße des langsam Dahinwandelnden kreiste es rasch und scheu, in blitzschnellem Flug, daß die gegabelten Flügel fast die Erde streiften – die Schwalben, die ersten Schwalben!

Und nun, wie die kleine seitliche Gartenpforte sich hinter dem Wanderer geschlossen hatte, umfing ihn nach wenigen Minuten der Wald, ein wohlgepflegter schön bestandener Forst, der dem Staate gehörte, Laub und Nadelholz untereinander, von großen Lichtungen und schnurgeraden Schneisen unterbrochen, die einen weiten Durchblick zuließen. Kräftiger Frühjahrsodem entströmte der Erdschicht, die unter den hohen Tannen- und Fichtengruppen lagerte, um das niedere Gesträuch wob bläulicher Duft, und die Zweige der weißschimmernden Birken zeigten sich grün gesprenkelt. An den Fuß der alten kahlen Eichen und Buchen geschmiegt, guckten truppweise die Anemonen hervor, hielten aber ihre lieblichen weißen Kelche noch fest verschlossen, die spröden zusammengerollten Knospen warteten noch auf den wärmeren Sonnenstrahl. Lau strich die weiche Luft um die alten Baumriesen und schmeichelte ihnen die Frühlingshoffnung ins Herz hinein. Schräge müde Sonnenstrahlen glitten mattgoldig und zitternd von Stamm zu Stamm, und hier im Grunde, wo der Waldboden sich senkte, webten schon die Schatten der Abenddämmerung. Ein traumhaftes Ahnen war über den ganzen Wald gebreitet. Röder empfand voll diesen Zauber. Er fühlte sich eins mit der Natur, hatte sie schon als Kind geliebt und ihr geheimes Walten belauscht, und gerade der kommende Lenz erfüllte ihn wie so viele Menschen, deren Gemütsleben reich und tief ist, mit lächelnder Wehmut. Er konnte sie nicht abwehren, diese erwartungsvolle Stimmung in jedem Frühjahr, trotzdem er genau zu wissen glaubte, daß es für ihn nichts mehr zu erwarten gab. War das denn aber nicht gut so? Wer nichts mehr vom Leben erwartete, dem konnte es auch nichts mehr zuleide thun!

Heute weitete sich ihm die Brust in wohligem Behagen. Er kam sich so geborgen, so wohl aufgehoben vor! In seinem Brief an den Freund hatte er sich ganz gegeben, wie er war, und das ruhige Gefühl dauernden Friedens, das er dort ausgesprochen, tönte wie ein reingestimmter Accord in ihm nach.

Selig, wer sich vor der Welt
     Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
     Und mit dem genießt –“

murmelte er vor sich hin. Zwar, er hielt keinen Freund am Busen und genoß allein, aber wie schön stimmten die ersten zwei Zeilen mit seinem Empfinden überein! Er hatte sich vor der Welt verschlossen – „ohne Haß“ war es geschehen, und daß er diese Welt oder doch ein Stück von ihr jede Stunde wieder erreichen konnte, sobald es ihn gelüstete, für eine Weile wieder in ihren Strudel unterzutauchen, gerade das gab seinem neuen Leben einen besonderen Reiz. Er konnte, sobald er wollte – aber gewiß, er würde nicht oft wollen.

Die Sonne war hinunter, am westlichen Himmel zerfloß ein sanftes Rosenrot, schnellziehende Wolken segelten über den Bäumen dahin. Einzelne mächtige Fichten mit langen hängenden Bärten standen wie ein paar eisgraue Wächter am Wege. Ein kleiner Bach, der von einer steinigen Anhöhe herabsprudelte, sang sein eintöniges Liedchen, rechtshin dehnte sich eine weite Waldwiese, über welcher milchweiße Nebel sich ballten. Hier mußten in lauen Sommernächten Irrlichter spuken und Leuchtkäfer ihr Spiel treiben. Weiter, weiter ins Dickicht hinein, einen schmalen Pfad hinan, der sich aufwärts wand zwischen knorrigen Buchen und kurzem Gestrüpp. Von dort oben mußte es ein schöner Blick sein, wenn alles grün bestanden war! Wie herrlich, mit wachsamem Auge all das Kommen und Werden, das Keimen und Blühen zu beobachten! Was wissen die Menschen in den Städten von solch stillem Genuß!

Aus den tiefer hängenden Wolken fing es jetzt an zu tröpfeln, ein leiser warmer Frühlingsregen fiel sacht hernieder, regungslos stand Busch und Baum, die Wohlthat zu empfangen. Der einsame Wandersmann hätte an die Heimkehr denken sollen, aber es war ihm zu wohl im Walde, und so schritt er weiter, an sumpfigem Moor vorüber, wo die grün glänzenden, scharfkantigen Schilfstauden im leisen Lufthauch wie Schwerter aneinanderklirrten, mit einem seltsam surrenden Ton, neben einer Felspartie, die wie eine kleine aufgetürmte Burg anzusehen war, bis zu einer tiefen Schlucht, die im Sommer von einem Blättermeer ausgefüllt sein mußte, jetzt aber nur eine Anzahl kahler Aeste aufwies, die ihr Gewirr wie tausend ineinander verschlungene Riesenarme in die Luft streckten. Dann dunkelte es rasch, so rasch, daß die Rückkehr kein ganz leichtes Stück Arbeit war.

Aber er fand sich zurecht, auf seinen langen Reisen hatte er ganz andere Wege zurückgelegt, und wie er dann endlich, durchnäßt und ermüdet, seine Villa erreichte und der Strahl der großen Lampe in der Vorhalle die goldene Inschrift aufleuchten ließ: „Buen Retiro“ – da überkam den Heimkommenden die ganze Freude des Besitzes, das schöne Gefühl ungestörten und unstörbaren Friedens, das ihn an dieser Stätte empfing.




3.

Nun war der Mai ins Land gekommen, ein ungewöhnlich warmer und schöner Lenzmonat. Um „Buen Retiro“ grünte und blühte alles, der Flieder hing seine Lasten üppiger Dolden über den Gartenzaun, zu Hunderten schlugen die Veilchen ihre blauen Augen auf, Maiglöckchen standen auf den Beeten und sproßten wild im Walde – ganze Ströme lieblicher Düfte zogen durch die weiche Luft. Auf leichten Armen schaukelten die Bäume wohlgefällig ihre Blätter- und Blütenlast, von den Bienen emsig umsummt, von den müßigen Schmetterlingen leichtherzig umgaukelt.

Die Rasenplätze hatten schon gemäht werden müssen, sie strotzten von üppigem Graswuchs. „Mamsellchen“ war glückselig über ihre prachtvollen Gemüsebeete und über den ersten „Satz“ junger Hühnchen, die eine Glucke glücklich ausgebrütet und die nun wie kleine Federkugeln auf dem Hühnerhof umherrollten. Ihr Doktor hatte für solche Dinge leider kein rechtes Verständnis, trotzdem er doch vom Lande stammte. Er war aber eines Abends ganz aufgeregt zu seiner alten Getreuen gekommen und hatte ihr mitgeteilt, im Garten sei eine Nachtigall, er habe sie wahr und wahrhaftig singen gehört. Ihm zuliebe heuchelte Mamsellchen einige Freude; sie hatte die holde Philomele längst entdeckt und sie im Innern einen Störenfried genannt, weil sie unter ihrem Fenster jeden Morgen um vier Uhr zu schlagen begann und die brave Haushälterin um ihren Morgenschlaf brachte. Indessen wenn er sich freute – mochte es denn in Gottesnamen sein! Alles, was ihm eine gute Stimmung brachte, war ihr willkommen, und dessen war viel, sie konnte mit ihm zufrieden sein. Ihn freute schlechterdings alles, der Sonnenschein, der Wind, ein blühender Baum, eine duftende Blume – ihn freute auch das schlechte Wetter. Dann konnte er doch einmal ein wenig fleißig sein und kam nicht in Versuchung, den ganzen Tag in Wald und Garten umherzulaufen. Mamsellchen sah ihn beständig heiter und gut aufgelegt von morgens bis abends umhergehen, hörte ihn oft ein Liedchen vor sich hinsummen, sah ihn halbe Stunden lang, die Cigarette zwischen den Lippen, mit Bast und Gartenschere hantieren und wunderte sich, wie ein so gelehrter weitgereister Mann so wenig Abwechslung brauchen könne. Denn er bekam selten Besuch und ging auch selten in die Stadt, und wenn sie ihn fragte, ob er denn beides nicht entbehre, lachte er und sagte Nein.

Ein köstlicher Maiabend. Ueber Tag hatte ein leichter kosender Wind zahllose Blüten von den Obstbäumen geschüttelt, daß die Gartenwege und Rasenplätze wie überschneit aussahen. Jetzt rührte sich aber kein Lüftchen, warmes Sonnengold tauchte die Villa in Purpur und ließ ihre heitere Inschrift wie Flammen leuchten.

Mamsellchen stellte eben ein Glas frische Milch für ihren Doktor auf seinen Arbeitstisch und sah durch das offene Fenster zu, wie er draußen sich zu den Narzissen hinabbeugte und sie aufmerksam anschaute, das waren Lieblingsblumen schon des Knaben gewesen. Jetzt richtete seine Gestalt sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe auf – er trug das Haupt ein klein wenig gebeugt, sein volles dunkles Haar war nur stellenweise leicht grau angeflogen, der gut gepflegte Schnurrbart aber fast schwarz, das Gesicht luftgebräunt, die Augen klug und ruhig blickend, ein wenig kurzsichtig. Alles in allem ein gut aussehender Mann – Mamsellchen fand ihn natürlich bildhübsch, „nur könnte er für seine Jahre jünger und flotter ausschauen, er macht sich mir viel zu alt. Und zu denken, daß ich den als kleines Kind im kurzen weißen Kleidchen auf dem Arm getragen habe!“

Hier kam Ewert mit den Postsachen, legte sie auf den Arbeitstisch und zog sich zurück. Doktor Röder hatte ihn kommen sehen, er pflückte eine Narzisse, steckte sie sich ins Knopfloch und trat in sein Zimmer, um etwaige Briefe zu lesen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_007.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)