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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

mehr von der blühenden feurigen Margot – und klagte viel. Das Leben in Brüssel schien ihr keineswegs zu behagen, doch ging dies mehr aus einzelnen Andeutungen hervor. Da ich selbst damals ein fast ununterbrochenes Reiseleben führte, so konnte ich sie nicht bitten, zu mir zu ziehen, so naheliegend ein solcher Vorschlag auch gewesen wäre. Ich glaube bestimmt, sie hätte ihn angenommen, denn wir beide fanden damals trotz der langen Trennung und des spärlichen schriftlichen Verkehrs sofort den alten Ton geschwisterlicher Herzlichkeit wieder, der unsere Kinder- und Jugendjahre so lieb und schön gemacht hatte, und Margot bat mich auch, falls je ein wahrer Freund, eine thatkräftige Hilfe ihr not thäte, ihr sowie ihrem Kinde getreulich beizustehen. Selbstredend gab ich ihr das Versprechen mit aller Bereitwilligkeit. Ich bin aber nicht in die Lage gekommen, es zu halten. Margot ist wenige Jahre nach jenem Besuch in Brüssel gestorben, der Tochter nahm sich ein Vetter ihres Vaters als Vormund an, und ich habe seither, trotzdem ich mich in mehreren Briefen teilnehmend nach ihr erkundigte, nichts mehr von ihr gehört. Damals war sie ein blasses schmächtiges Kind von etwa dreizehn bis vierzehn Jahren, ziemlich still und unzugänglich im Verkehr, obschon ihre Mutter ihr allerlei Gaben und Talente nachrühmte. Ich nehme an, sie ist so hübsch geworden wie Margot es war, und hat ebenso jung geheiratet wie diese – möge ihr Glück von längerer Dauer sein! Dies ist alles, was ich Dir von Deiner alten Jugendliebe berichten kann – nimm vorlieb damit! Ich denke noch oft an die liebreizende Margot früherer Zeiten, die mein stilles Elternhaus mit Heiterkeit und Sonnenschein erfüllte, und ich hätte gewünscht, ihr oder ihrem Kinde einmal ernstlich dafür danken zu können.

Und damit Schluß, mein alter Freund! Der Frühlingsabend sinkt herab, und mich verlangt nach einem weiten Spaziergang. Ich habe hier viel Wald in der Nähe, aus der kleinen Seitenpforte meines Gartens führt ein Weg unmittelbar dorthin. Schön ist’s da schon jetzt, und unsagbar schön wird’s im Mai sein und im Sommer, wenn die Linden blühen. Brandet, braust, ihr stürmischen Wellen des Lebens, ihr spült nicht einmal bis an die friedlich stillen Ufer meines „Buen Retiro!“
 Vale! Immer der Deine!
 Cornelius Röder.




2.

Röder schrieb gerade mit seiner festen, markigen Handschrift die Adresse, als es dreimal an seine Thür klopfte.

„Nur näher!“ rief der Hausherr wohlgelaunt, ohne sich umzuwenden, dies Klopfen kannte er!

Die eintretende Persönlichkeit rechtfertigte durch ihre bloße Erscheinung die Bezeichnung „originelles Frauenzimmer“, die Röder in dem Briefe an seinen Freund gebraucht hatte. Ganz klein, von zierlicher Behendigkeit, tief brünett, die Brauen beständig über einem Paar lebhaft funkelnder Schwarzaugen hoch hinaufgezogen, wie in unausgesetztem Erstaunen, daß es so viel Seltsames in der Welt zu schauen gebe, ein schneeweißes steif gestärktes Mützchen auf dem Hinterkopf – sie nannte es ihr „Hüllchen“ – so machte das Mamsellchen einen Eindruck, daß man es trotz seiner Kleinheit niemals übersehen konnte. Man wandte sich lächelnd oder verwundert nach dem kleinen Persönchen um, wo es zum erstenmal vorüberschritt, und wer es gesehen hatte, vergaß es sobald nicht.

Als blutjunges Ding von fünfzehn Jahren war Linchen Moser – dies war ihr eigentlicher Name, bei dem seit Menschengedenken sie niemand rief – auf das Rödersche Rittergut gekommen, und zwar in der Eigenschaft eines Kindermädchens für den damals fünfzehn Monat alten Sohn und Erben Cornelius. Sie liebte Kinder abgöttisch, hatte etwas Gesetztes, Verständiges in ihrem Wesen und hütete den kleinen Jungen wie ihren Augapfel. Kein anderer Mensch verstand so herrlich mit dem Kinde zu spielen wie sie, das Kinderzimmer hallte beständig von Lust und Lachen wieder, wenn Linchen ihrem Pflegling ihre Späße vormachte. Er hing mit großer Liebe an ihr, die sich um kein Bruchteil verminderte, als sie allgemach zur „Mamsell“ und er, unter Anleitung eines Kandidaten, zu einem Lateinschüler aufrückte. Ja, auch als der Junge in die Stadt aufs Gymnasium geschickt wurde und nur zu den Ferien heimkam, erlitt sein Verhältnis zu Mamsellchen keine Störung. Die beiden korrespondierten miteinander, sie schickte ihm heimlich Aepfel und Wurst, er sandte ihr ebenso heimlich zerrissene Anzüge, von denen die Mama nichts wissen sollte. Als Primaner, selbst als Student verfehlte Cornelius nie, seine hochgewachsene Gestalt zu dem kleinen Frauenzimmerchen hinabzuneigen, wenn er heimkehrte, es kräftig zu umarmen und laut schallend auf beide Wangen zu küssen, und es kostete einen harten Kampf, ehe er es duldete, daß „seine Alte“ ihn mit „Sie“ anredete, während er sie unentwegt duzte, auch als er zum Doktor der Philosophie geworden und später von langjährigen Reisen zurückgekehrt war.

Jetzt huschte sie rasch ins Zimmer und dicht bis an den Schreibtisch des Hausherrn.

„Doktorchen, Sie werden sich rein tot arbeiten!“ Mamsellchen sprach den blühendsten ostpreußischen „Dialakt“, den man sich denken konnte.

„Aber Mamsellchen, sieh doch her! Ist das eine Arbeit?“

Sie senkte ihre komische Spitznase bis auf den Briefumschlag herab und prüfte sorgfältig die Aufschrift.

„An einen Herrn!“ betonte sie mit Befriedigung.

Röder lachte hell auf. „Wie oft soll ich Dir’s sagen: ich schreibe keine Briefe an Damen.“

„Na, das würden Sie mir doch nicht erzählen. So ’was sagen die Männer nie!“

„Ich möchte gar zu gern wissen, woher Du Deine tiefen Kenntnisse über die Männer geschöpft hast.“

Mamsellchen kniff pfiffig das rechte Auge zu und nickte wichtig vor sich hin. „Soll ich meine sechzig Lebensjahr’ wie ’ne Dumme durch die Welt gegangen sein?“

„Bewahre, wer denkt denn das?“ begütigte er.

„Na, denn also! Ich hab’ immer so’n Auge auf die Männer gehabt, Doktorchen! Aber nun auch schnell! Mappe zugeklappt und spazierengegangen – hier ist der Hut, da der Stock, der Ueberzieher.“

„Bei dem warmen –“

„Er wird angezogen! Um ’ne kleine Stund’ ist es hundekalt, sag’ ich! So, nun ist es schön! Doktorchen, so um die Schläfen herum fangen Sie auch schon an, grau zu werden!“

„Das siehst Du jetzt erst? Ich bekam mit dreißig Jahren schon graue Haare!“

„Aber nötig wär’ es nicht. Der sel’ge Papa war bis hoch in die Fünfziger kohlrabenschwarz, und die Mama – ja, bei den Blonden sieht man’s Graue nicht! Also ist es bei Ihnen der Kummer gewesen!“

„Warum nicht gar! Kummer!“

„Und wer Ihnen den gemacht hat,“ fuhr sie unbeirrt und ingrimmig fort, „mit dem hätt’ ich mich ’mal gern so unter vier Augen besprochen! Natürlich ist’s ’ne Dame gewesen. Und ’ne schöne Dame muß das gewesen sein.“

Ein gewisser Ausdruck in Röders Gesicht ließ das Mamsellchen verstummen. Ach, sie kannte ihn gut! Wer auf der weiten Welt konnte ihn denn besser kennen als sie!

„Adieu, meine liebe Hausfrau! Und Ewert soll den Brief besorgen. Zum Abendbrot bin ich wieder da.“

Draußen im Garten traf er auf Ewert, der beim Einsäen und Bestellen der Blumenbeete war – ein kräftiger junger Bursch mit einem kugelrunden, kurz geschorenen Kopf und einem zufriedenen roten Gesicht, ehemaliger Offizierbursch, der sich viel auf seine Manieren, seine makellose Dressur zu gut that. Er stellte sich sofort in Positur, als er seines Gebieters ansichtig wurde: Oberkörper stramm aufgerichtet, Hände knapp an der Hosennaht, Kopf hoch, Blick von vorschriftsmäßiger Ausdruckslosigkeit, eingedenk der schönen Mahnung des Unteroffiziers: „Der Kerl sieht aus, als ob er sich ’was denkt! Der Kerl hat sich nichts zu denken! Gradauszusehen hat der Kerl!“

Doktor Röder hatte eine kleine sachgemäße Auseinandersetzung mit Ewert wegen der Sämereien; er nahm selbst den Spaten zur Hand und setzte ein paar Pflänzchen, lockerte die feuchte dunkle Erde und verteilte die Sämereien, prüfte hier und änderte dort, endlich ging er mit einem Kopfnicken davon.

Der Weiher ruhte still und träumend in seinen runden Ufern, denen zartgrüne Gräser entsproßten. Eine seltsame dunkelklare Farbe hatte dieses Wasser, so wie gewisse Augen, durch die man bis in die Tiefen der Seele hinunterschauen zu können meint – man schaut und schaut und sie sind unergründlich!

Ein laues Lenzeslüftchen spielte um die Bäume, die den Weiher umstanden; sie kamen ins Flüstern, rührten leise die schlanken, blattlosen Zweige, daß es klang wie ein Seufzen;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_006.jpg&oldid=- (Version vom 5.4.2021)