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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Ich erinnere mich, daß sich aus Ihrem Hause heimlich ein junger Mann entfernte. Ist es der nämliche, Fräulein Himmel?“

„Ja.“

„Er hält sich jetzt in Deutschland auf?“

„Er dient sein Jahr als Einjähriger ab.“

„War er in der letzten Zeit einmal hier in diesem Hause?“

„In der Nacht, da die zweite Frau Wollmeyer starb, war er hier,“ antwortete die Base.

„Was wollte er hier?“

Die Base schwieg; verlegen sah sie zu Boden. Mein Herz pochte wie wahnsinnig.

Herr Wollmeyer lächelte höhnisch. „Ah, ah – was erfahre ich denn da, meine liebe Anneliese? Sollten Sie zufällig wissen, wem der Besuch des Herrn Robert Nordmann galt?“

„In welchen Räumen hielt er sich auf?“ fragte Braunberg, ohne diese Taktlosigkeit zu beachten.

„In diesem Zimmer, dem nämlichen, wo der Einbruch geschehen ist,“ erklärte die alte Frau.

„Wie lange war Herr Nordmann bei Ihnen?“

„Von abends zehn Uhr bis morgens gegen Fünf. Er reiste ab, sobald er erfuhr, daß die gnädige Frau tot sei.“

„Herr Wollmeyer wußte nicht darum?“

„Nein! der Besuch galt mir. Er war auf meinen besonderen Wunsch gekommen.“

„Ich frage Sie noch einmal, Fräulein Himmel – welchen Beweis können Sie dafür erbringen, daß Herr Nordmann in dieser letzten Nacht nicht hier gewesen ist, daß also nicht er es war, der den Entwendungsversuch machte?“

„Den einfachsten von der Welt – er weiß gar nicht, daß ich diese Papiere besitze.“

„Und Sie sind überzeugt, daß diese Papiere noch in Ihrem Besitz sind, daß sie der Eindringling nicht nahm?“

„Er nahm sie nicht, er konnte sie nicht nehmen.“

„Aha, Sie hatten sie nicht in jener Kommode?“

„Ich besaß sie überhaupt nicht mehr; ich hatte sie bereits an meinen Neffen geschickt.“

„Und wann ist das geschehen?“

„Gestern abend.“

„Gestern abend?“ Der Beamte sah sie aufmerksam und zweifelnd an. „Wie kamen Sie dazu, sie gerade gestern abzusenden?“

„Ich hielt sie hier nicht länger für sicher.“

„Haben Sie eine Postquittung?“

„Nein, ich habe sie mit gewöhnlichem Brief gesandt. Als ich mich zum Fortschicken entschloß, war die Post nicht mehr geöffnet.“

„Also da wäre Robert Nordmann heute früh in den Besitz dieser ihm so wertvollen Papiere gekommen?“

„Ja, länger werden Briefe nach Halle wohl nicht brauchen.“

Der Polizeikommissar schwieg und strich sich den Bart. Herr Wollmeyer trocknete sich die Stirn mit dem seidenen Taschentuch. „Es ist doch sonderbar,“ stieß er hervor, „heute nacht wird hier eingebrochen, und heute früh ist Herr Nordmann im Besitz eines bestimmten Gegenstandes, der für ihn sehr wertvoll sein soll!“

Der Beamte hatte ein kleines Notizbuch aus der Tasche gezogen und studierte darin. Dann schrieb er etwas auf und gab es dem herbeigerufenen Stadtsergeanten. „Nach dem Telegraphenbureau!“

Wollmeyer hielt ihn plötzlich am Arm. „Lassen Sie gut sein, Braunberg; ich ziehe den Antrag auf Untersuchung zurück. Es spielen hier Verhältnisse mit, Verhältnisse so zarter Natur – es ist möglich, daß mein Neffe hier war, sogar sehr wahrscheinlich, keineswegs indessen, um sich ein fabelhaftes Papier zu holen, das vielleicht in einem hinterlassenen Schreiben seiner Mutter besteht, sondern um – Sie wissen, lieber Braunberg, bevor die Verlobungsanzeigen nicht gedruckt sind – und Sie wissen, solche Süßigkeiten sind ja um so reizender, wenn sie hinter dem Rücken des Papas – ha, ha!“ Er lachte jovial und schlug dem Beamten auf die Schulter. „Ich werde mit dem nächsten Zug hinüberfahren nach Halle und unter vier Augen mit dem Jungen reden. Kommen Sie mit hinaus, wir trinken ein Glas Rotspohn miteinander – die Sache hier ist erledigt!“

Ich stand plötzlich auf den Füßen; ich wollte reden, wollte hinüberstürzen, um dem Menschen einen Schlag ins Gesicht zu geben, der es wagte, Robert und mich zu beschimpfen.

Die Base riß mich zurück und trat zu dem Beamten. „Ich bin die einzige, die zu bestimmen hat, ob die Untersuchung erledigt sein soll oder nicht!“ rief sie mit totenblassem Gesicht. „Mich hat man bestehlen wollen, und da die Sache eine solche Wendung nimmt, verlange ich, daß man ihr auf den Grund geht. Der Vater ist unschuldig des Diebstahls bezichtigt worden, den Sohn will ich vor ähnlichem Schicksal behüten.“

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Herr Nordmann verdächtig ist, zur Nachtzeit in Ihr Zimmer gedrungen zu sein, um sich die für ihn sehr wertvollen Urkunden widerrechtlich anzueignen,“ warnte der Beamte. „Man wird ihn noch heute polizeilich vernehmen.“

„Aber Base, Base,“ mahnte Herr Wollmeyer und trocknete sich die blasse Stirn mit dem Taschentuch. Der Boden schien ihm unter den Füßen zu schwanken, er setzte sich. „Bedenken Sie doch, liebe Base, bedenken Sie doch!“ stammelte er. „Ich reise nach Halle und bringe die Geschichte in Ordnung – machen Sie ihn nicht unglücklich, den armen Jungen.“

Aber die alte Frau hörte ihn nicht. Durch ihre Gestalt ging zwar ein Zittern, während sie sich auf die Tischplatte stützte, und in ihrem Gesicht zuckte es wie Krampf, aber die bläulichen zitternden Lippen gehorchten ihr, und die Augen fest auf den Beamten gerichtet, sagte sie: „Herr Polizeikommissar, Sie würden den Unschuldigen vernehmen – der Thäter ist Herr Wollmeyer. Ich habe ihn erkannt, als ich erwachte, und bin bereit, es eidlich zu bezeugen.“


Heute weiß ich nicht mehr genau zu sagen, wie die Ereignisse jenes Tages sich aufeinander folgten; nur, daß sie lawinenartig über das Haus und seine Bewohner hereinbrachen, das weiß ich noch. Aufrecht inmitten der ganzen Geschichte stand allein die Base. Ich erinnere mich noch, daß jemand mich aus dem Zimmer mehr trug als führte, nachdem die Base gesprochen hatte; daß Wollmeyer lachte, höhnisch, brutal, um dann jäh zu verstummen; daß der Polizeikommissar mit ihm nach oben ging und daß die Base in ihrer Stube blieb, allein, ganz allein und still. Was die alte Frau da mit sich durchgekämpft hat, kennt nur Gott allein.

Wie der Gang des Verhörs sich entwickelte, das nunmehr der Staatsanwalt selbst leitete, ahnte ich nicht. Es war ein immerwährendes Kommen und Gehen von Beamten und Depeschenboten. Wollmeyer verlangte, mit der Base zu sprechen, nachdem ein Telegramm eingetroffen war mit der Nachricht, ein Brief mit Einlage sei in der Wohnung Roberts gefunden worden, uneröffnet, da der Adressat noch im Dienst sei. Die Beamten hatten dann Wollmeyers Haus verlassen, nachdem dieser des Entwendungsversuches überwiesen worden war.

Es waren qualvolle Stunden, die ich verlebte. Ich lag auf meinem Bett, unfähig, mich zu rühren, und mußte das Flehen und Winseln jener Stimme vernehmen, die ich bisher nur im Tone größter Selbstgefälligkeit oder des Zornes hatte sprechen hören. Ich konnte die Worte nicht verstehen, ich deckte auch die Kissen über meine Ohren. Mit einem Male schrie er aber so laut, daß ich es hören mußte: „Ich fordere das Blatt zurück, es ist mein Eigentum! Sag’ ihm, er soll verlangen, was er will; mein ganzes Geld mag der Lump haben und das Mädel dazu! Was braucht’s den großen Lärm, ich will ja doch nichts weiter! Pack’ auf, nach dem Bahnhof, fahr’ hin –“ Und dann wieder das verzweifelte Weinen!

Was die Base geantwortet hat, weiß ich nicht. Was sie gelitten, den Mann so zu sehen, dem sie einst ihr ganzes Herz geschenkt, auch das habe ich nicht erfahren. Sie reiste nicht nach Halle, das Erbarmen war ihr geschwunden nach dem Versuch seinerseits, die niedrige Handlungsweise auf die Schultern Roberts zu laden, dessen Vater er schon entehrt hatte.

Da nahm der Mann, der so schlau zu rechnen verstand, noch einmal seinen ganzen Witz zusammen und löste selbst das verwickelte Exempel seines Lebens, dessen Facit Verachtung, Strafe, schwere Strafe vor dem irdischen Richter ergab, auf eine Weise, die für ihn sowohl wie für die Gerichte die einfachste war. – Gegen drei Uhr nachmittags hallte droben in seinem Arbeitszimmer ein Schuß.

Die Base trat zu mir in die Stube. „Was war das?“ fragte ich und fuhr mit Herzklopfen empor.

„Es wird irgend etwas hingefallen sein, Anneliese.“

Da gellte schon der Schrei des Stubenmädchens durch das Haus: „Der Herr – der Herr!“

Stumm ging die alte Frau hinaus. – – –

(Schluß folgt.)


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