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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

wie die früheren von Otto Braun zusammengestellt ist, bestätigt die ihm entgegengebrachten Erwartungen. Die Erzählungen in Prosa eröffnen wie immer die Sammlung. „Rafaela“ von Frau Henriette Keller-Jordan hat tropische Farbenpracht; die Muse der Verfasserin ist ja in Mittelamerika zu Hause. Tropisch sind auch die Frauencharaktere. „Der edle Ferdinand“, eine Novelle von Ernst Lenbach, erinnert an die westfälischen Charakterköpfe, wie sie Levin Schücking in seinen Romanen in humoristischer Beleuchtung gezeichnet hat. Auch die Erzählung von Ernst Eckstein „Pastor Vigelius“ genießt des Vorzugs eines fein gestimmten Humors. Unter den poetischen Erzählungen und Balladen finden sich Erzeugnisse unserer beliebtesten Dichter. Georg Ebers erzählt uns ein Märchen in Versen, „Engelshilfe“, oder vielmehr eine Legende, die mit einer reizenden Vignette, den Rosengesichtern der Kinder unter dem Rosenflor des Häuschens, beginnt. Die Seele eines gestorbenen Schwesterchens wird der Schutzgeist des ihr nachweinenden Brüderchens. Es folgt ein Gedicht von Adolf Wilbrandt, „Am Kamin“, tiefsinnig und reich an genialen Wendungen; dann ein ergreifendes Gedicht: „Wie die Jugend liebt“, von Isolde Kurz, eine Heiligengeschichte mit nordischem Kolorit von Heinrich Kruse, „Die Bekehrung“, „Das Begräbnis“ von Karl Woermann, eine Künstlergeschichte in feierlichen Terzinen, „Der Prophetenschüler“ von Adolf Stern, mit mächtigem Psalmenschwung, „Guido Reni im Kerker bei Beatrice Cenci“, ein Gedicht Hermann Linggs von leidenschaftlicher Bewegtheit, und andere. Daß unter den lyrischen und vermischten Gedichten auch die höhere Kunstform vertreten und gewahrt ist, beweisen die formschönen Sonette aus Palermo von Julius R. Haarhaus, die antiken Oden von Ferdinand v. Saar und Karl Weitbrecht; doch auch sonst sind die Gedichte fast alle tadellos, im strophischen Aufbau, ini metrischen Fluß. Es sind ja auch hier unsere besten Dichter vertreten. Der „Nestor der schwäbischen Dichter“, J. G. Fischer, und sein ihm ebenbürtiger Landsmann Ed. Paulus fehlen ebensowenig wie der Sänger des Rheins, Emil Rittershaus, und der in München eingebürgerte Wilhelm Hertz, dessen gedankentiefe Apostrophe an die „Sternennacht“ diese Abteilung weihevoll einleitet. Wenn wir noch die Beiträge von Felix Dahn, Arthur Fitger, Max Kalbeck, Alb. Möser, Graf Wickenburg, Ernst Ziel, Angelika v. Hörmann, Karl Busse, Max Hartung hervorheben, so ist das Rühmenswerte damit doch keineswegs erschöpft. Wie die Ausstattung des stilschönen Seideneinbands sind auch die sechs Kunstbeilagen, teils stimmungsvolle Landschafts-, teils Figurenbilder von alten und neuen Meistern, eine treffliche Ergänzung des poetischen Inhalts. Für Freunde der Poesie ist der „Musenalmanach“ eines der empfehlenswertesten Festgeschenke.


Die Sixtinische Madonna. (Zu dem Bilde S. 824 und 825.) Eine Festgabe will unser heutiges Blatt in doppelter Beziehung sein: nicht allein das in der Christnacht auf Erden erschienene Jesuskind will sie den Lesern vor Augen führen, sondern seine Verkörperung durch jenes Bild, dessen mächtiger Eindruck auf die Menschenseele ganz ebenso wirkt wie das hohe Fest selbst: der Lärm des Werkeltages verstummt vor ihm, und andachtsvolle Stille, ein beglücktes Gefühl der Erlösung von Erdenschwere breitet sich friedevoll in der Seele aus. Dies empfindet jeder, der in den Raum der Dresdener Gallerie eintritt, den die Sixtinische Madonna mit ihrer überirdischen Schönheit wie ein Heiligtum verklärt.

Rafael selbst, so viele Madonnen er vorher und nachher malte, hat den Gipfel dieser Leistung nicht zum zweitenmal erreicht; es müssen die glücklichsten inneren und äußeren Umstände seines vom Schicksal so reich begünstigten Lebens zusammen gewirkt haben, um einen solchen Guß aus dem Vollen, eine solche höchste Verkörperung menschlichen und göttlichen Wesens in einem Zuge aus der Schöpferkraft seines Innersten hervorbrechen zu lassen.

Die glücklichen ersten Besitzer waren die Benediktiner des Klosters S. Sisto in Piacenza, welche bei Rafael das Bild der Madonna mit dem heiligen Papst Sixtus und der heiligen Barbara als Altarblatt bestellten. Gemalt ist das 2,65 m hohe und 1,96 m breite Bild um das Jahr 1515. Man setzte seine Entstehung früher in das Jahr 1518–19, kurz vor Rafaels Tod, weil man gern annahm, daß dieses höchste seiner Madonnenbilder auch das letzte gewesen sei; diese Annahme ist jedoch, wie Springer in seinem Werke „Rafael und Michelangelo“ mit zwingenden Gründen nachweist, irrig. Zweifellos ist das Ganze von seiner eigenen Hand gemalt, obwohl ihn damals schon der ungeheure Andrang von päpstlichen und andern Bestellungen nötigte, die angelegten Entwürfe von Schülern ausführen zu lassen. Die Farben dieses herrlichen Bildes sind mit so leichten und breiten Strichen aufgetragen, daß es, gegen das Licht gesehen, transparent erscheint.

Die Madonna thront nicht, wie auf anderen Bildern Rafaels, umgeben von Heiligen, mit dem Jesusknaben auf dem Schoß, sondern sie schwebt, gleichsam in einer Vision angeschaut, aus dem Hintergrund des von unzähligen Engelsköpfchen erfüllten Himmels hervor. Der zu beiden Seiten zurückgezogene Vorhang gestattet irdischen Blicken das Eindringen in die himmlische Herrlichkeit. Die Jungfrau trägt den herkömmlichen blauen Mantel über rotem Unterkleid, ein lichtgrauer Schleier wölbt sich, durch den Luftzug gespannt, vom Haupt über die Schultern nieder. Die großen Augen sind geradeaus gerichtet mit einem von keiner Nachbildung erreichten wunderbaren Ausdruck von Unschuld und stiller Hoheit. Sie hält auf den Armen den Welterlöser in Kindesgestalt, sie drückt ihn nicht mit mütterlicher Zärtlichkeit ans Herz, sondern trägt ihn der Menschheit entgegen. Aus seinen ebenfalls dem Beschauer voll entgegenleuchtenden Augen spricht rein und groß die göttliche Natur, der schöne Kinderkörper hat bei aller Weichheit nichts mit kindlicher Hilflosigkeit gemein. Rechts von der Madonna kniet der prachtvolle päpstliche Greis im Goldbrokatgewand, er hat seine Tiara auf die Schranke gestellt, welche den himmlischen Vorgang von der irdischen Welt scheidet, mit erhobenem Haupte deutet er fürbittend heraus auf die gläubige Gemeinde. Die heilige Barbara hält, in Andacht versunken, demutsvoll die Blicke gesenkt. Unten aber auf die Schranke stützen sich die beiden liebreizenden Engelknaben, deren naive Anmut die erschütternde Großartigkeit des Bildes so überaus wohlthuend abschließt.

Die Sixtinische Madonna wurde schon bei Lebzeiten Rafaels von der Bewunderung der Italiener als einzig und unübertrefflich gefeiert, sie blieb als teuerstes Besitztum des Klosters S. Sisto auf ihrem Altar bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Damals faßte der kunst- und prachtliebende Kurfürst August III. v. Sachsen den Plan, die schon unter August dem Starken sehr ansehnliche Dresdener Galerie glänzend zu vermehren. Sein in andrer Beziehung berüchtigter Minister Brühl war in der Wahl der Unterhändler so glücklich, um sehr bald eine Fülle herrlicher Bilder, ja ganze Privatgalerien in Italien und anderwärts zusammenkaufen zu können, so daß die Dresdener Sammlung bald alle anderen in Deutschland verdunkelte. Die Krone aller Erwerbungen aber bestand in dem weltberühmten Bild Rafaels, welches der findigste jener Agenten, der Maler Giovannini, den Mönchen von S. Sisto um die für jene Zeit sehr hohe Summe von 20 000 Dukaten (180 000 Mark) abhandelte. Sie begnügten sich mit einer Kopie, die noch heute dort hängt, und ließen das Bild ziehen, um welches wohl von den heutigen Italienern Deutschland schmerzlich beneidet wird, das aber diesem um Millionen nicht mehr feil wäre und seine alte Bestimmung, Menschenherzen zu erbauen und aufzurichten, am heutigen Standort jedenfalls nicht weniger erfüllt als an dem ehemaligen der Klosterkirche von S. Sisto. R. A.     



Inhalt: Weihnachtsträume. Ein Idyll von Carl Busse. S. 821. Mit Abbildungen S. 821, 822 und 823. – Die Sixtinischc Madonna. Bild. S 824 und 825. – Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (13. Fortsetzung). S. 826. – Weihnachtstuten in der Mark. Bild. S. 828. – Franz Bandholts Weihnachten. Von Johannes Wilda. S. 829. Mit Illustrationen S. 829, 830, 831, 834 und 835. – Die Heimkehr. Bild. S. 832 und 833. – Vor der Bescherung. Bild. S. 836. – Weihnachtsgeheimnisse. Von Alexander Tille. S. 837. – Einsame Weihnachten. Bild. S. 837. – Blätter und Blüten: Zu unseren Weihnachtsbildern. S. 839. (Zu den Bildern S. 828, 832 und 833, 836, 837 und zu unserer Kunstbeilage.) – Der Cotta’sche Musenalmanach. S. 839. – Die Sixtinische Madonna. S. 840. (Zu dem Bilde S. 824 und 825.)


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage XIII: „Im Weihnachtsurlaub.“ Von L. Blume-Siebert.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_840.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)